5. Die Zeitreise
im Tiefkühlschlaf










Auch wenn die Entwicklung von Techniken zur Aufzeichnung und
Übertragung der Gehirninformation noch mehrere Jahrhunderte
dauern sollte, ist das Nachdenken darüber keineswegs eine müßige
Grübelei. Schon heute können Menschen hoffen, die Unsterblich-
keit zu erreichen, obwohl sie die Entwicklung der dazu erforder-
lichen Verfahren nicht mehr erleben werden. Die Konservierung
des Gehirns eines Sterbenden bei extrem tiefen Temperaturen bie-
tet gute Aussichten, seine Gehirninformation über den Tod seines
Körpers hinaus für sehr lange Zeit zu erhalten. Bei etwa -200°C
gibt es nämlich, anders als bei -20°C in einem gewöhnlichen
Tiefkühlfach, praktisch keine chemischen Reaktionen und Zer-
fallsvorgänge mehr. Dadurch wird das Gehirn in dem Zustand be-
wahrt, in dem es einst eingefroren wurde. Die dafür erforder-
lichen Technologien stehen schon heute zur Verfügung. Somit läßt
sich ein Gehirn erhalten, bis die Wissenschaft so weit fortgeschrit-
ten ist, daß die in ihm enthaltene Secleninformation in einen
neuen Körper übertragen werden kann. So kann der Mensch wie-
dererweckt werden, dessen Gehirn bei extrem tiefen Temperaturen
eingefroren wurde.

Er hat dann eine Zeitreise in die Zukunft unternommen (vgl.
Übersichtsdiagramm, S. 70). Nach seiner Wiederauferstehung aus
dem Tiefkühlschlaf fühlt er sich, als wäre er nach einer Operation
aufgewacht, die alle Krankheiten und Altersbeschwerden beseitigt
hat, denn sein neuer Körper ist stark und gesund. Seine Persön-
lichkeit ist unverändert, weil alle dafür wesentlichen Eigenschaf-
ten seines neuen Gehirns mit denen seines alten übereinstimmen.
Der Gedanke an eine Zeitreise mag zwar zunächst ungewöhnlich
erscheinen. Diese Vorstellung ist jedoch so alt wie unser techni-
sches Zeitalter. Schon 1780 sagte der bedeutende amerikanische
Erfinder, Wissenschaftler, Philosoph und Staatsmann Benjamin


68


Franklin voraus, daß der wissenschaftliche Fortschritt den Men-
schen irgendwann ein unbegrenztes Leben ermöglichen würde (1).
Franklin, der den Blitzableiter erfunden hatte, war über die Fort-
schritte seiner Zeit - etwa über die Pockenimpfung und die
Dampfmaschine - begeistert. So verlangte es ihn danach, die zu-
künftigen Entwicklungen kennenzulernen. In einem Brief an den
englischen Wissenschaftler Joseph Priestly schrieb er: "Der rasche
Fortschritt der Wissenschaft läßt mich manchmal bedauern, daß
ich zu früh geboren bin. Man kann sich nicht vorstellen, welche
Höhen die Macht des Menschen über die Materie in 1000 Jahren
erreichen wird." (2) Gegenüber einem französischen Freund drückte
Franklin den Wunsch aus, er möchte in späteren Jahrhunderten
wieder zum Leben erweckt werden, um die künftige Evolution
Amerikas zu sehen (3).

Für die jetzt Lebenden könnte Franklins Traum Wirklichkeit wer-
den. Wir sind zwar noch nicht imstande, den Tod zu verhindern.
Wir besitzen aber Mittel, das Gehirn, das für die individuelle Per-
sönlichkeit und die Seele eines Menschen entscheidende Organ,
durch eine Konservierung bei sehr niedrigen Temperaturen vor
dem Zerfall zu bewahren. Wie in Teil 5.1 anhand von wissen-
schaftlichen Forschungsergebnissen aus dem Bereich der Hirnfor-
schung gezeigt wird, kann man davon ausgehen, daß die Seelen-
information bei der Abkühlung des Gehirns auf extrem tiefe Tem-
peraturen nicht zerstört wird. Da sie auch nach dem Tod nicht so-
fort verlorengeht (Begründung s. Abschnitt 5.1.3), können dieje-
nigen auf eine Wiedererweckung in der Zukunft hoffen, die ihr
Gehirn möglichst bald nach ihrem Ableben einfrieren lassen. Des-
halb braucht der Tod für den einzelnen nicht mehr das unwider-
rufliche Ende zu bedeuten, wenn er entsprechende Vorsorge für
die Kältekonservierung seines Gehirns trifft. Dann kann er von
den zukünftigen Fortschritten der Wissenschaft profitieren, denn
diese werden es wahrscheinlich früher oder später ermöglichen,
ihn wieder ins Leben zurückzurufen.

Für die Wiedererweckung eines Zeitreisenden kann ein neuer Kör-
per mit heute schon prinzipiell bekannten Verfahren (Kloning) aus
seiner genetischen Information erschaffen werden, die in jeder
Hirnzelle vorhanden ist und einen kompletten Bauplan seines ge-
samten Körpers enthält. Nach einer genaueren Erforschung des
Gehirns wird sich seine Seeleninformation unter Umständen
dadurch in den neuen Körper übertragen lassen, daß bestimmte


                                                           69


Stoffe aus seinem durch die Tiefkühlung bewahrten alten Gehirn
herausgelöst und in das neue Gehirn gebracht werden. Es könnte
nämlich im Gehirn chemische Substanzen geben, von denen alle
Persönlichkeitseigenschaften und Gedächtnisinhalte abhängen.
Wenn das nicht so sein sollte, kann die Seeleninformation des
Zeitreisenden mit Hilfe von verbesserten Robotern und Gentech-
niken in den neuen Körper übertragen werden (nähere Erläuterun-
gen s. Abschnitt 5.3).

Für die dazu notwendige Weiterentwicklung der Technik steht ge-
nügend Zeit zur Verfügung, weil die Gehirne der Zeitreisenden bei
extrem tiefen Temperaturen für viele Jahrtausende erhalten blei-
ben. Wenn man an die gewaltigen wissenschaftlichen Fortschritte
in den letzten 200 Jahren denkt, kann man jedoch annehmen, daß
die Wiedererweckung der Zeitreisenden schon in einigen Jahrhun-
derten möglich sein wird.

Somit haben schon wir, die Menschen der Gegenwart, gute Aus-
sichten; dem Tod als Dauerzustand zu entgehen. Wenn wir geeig-
nete Vorkehrungen für die Kryokonservierung unserer Gehirne
treffen, können wir ihn als den Beginn einer langen Zeitreise anse-
hen, an deren Ende eine Wiedererweckung durch fortgeschrittene
Technologien der Zukunft steht. Kryokonservierung ist dabei ein
anderer Ausdruck für die Kältekonservierung bei extrem tiefen
Temperaturen. Warum die Zeitreise im Tiefkühlschlaf ohne un-
tragbare Kosten verwirklicht werden kann und warum diejenigen,
die ihr Gehirn in geeigneten Einrichtungen einfrieren lassen, auf
eine ununterbrochene Kältekonservierung bis zu ihrer Wiederer-
weckung vertrauen können, wird im 6. Kapitel ausgeführt.




Gegenwart:         Einfrieren des Gehirns des Zeitreisenden

kommende           Erhaltung des Gehirns durch Konservierung
Jahrhunderte:      bei extrem tiefen Temperaturen


Zukunft:           Wiedererweckung des Zeitreisenden (Über-
                   tragung der in seinem Gehirn enthaltenen
                   Seeleninformation in einen neu erschaffenen
                   Körper)


5.1: Übersichtsdiagramm zur Zeitreise im Tiefkühlschlaf


70






5.l Das Einfrieren des Gehirns




5.1.1 Die Chiffrierung der Gehirninformation durch 
Moleküle und Strukturen


Für die individuelle Gehirninformation ist das Langzeitgedächtnis
von zentraler Bedeutung, da es für die Ausprägung der Persön-
lichkeit und für die Einmaligkeit eines jeden Menschen entschei-
dend ist. So wurde gesagt: "Wenn Persönlichkeit Lebensgeschich-
te ist und Lebensgeschichte gleich Gedächtnis, dann wäre Persön-
lichkeit gleichzusetzen mit Gedächtnis."  Das Langzeitgedächtnis
umfaßt alle bewußt oder unbewußt im Gehirn gespeicherten In-
formationen, die nicht wie die zum Kurzzeitgedächtnis gehören-
den nach wenigen Sekunden bis Stunden wieder vergessen werden.
Dessen Inhalte sind deshalb für die Persönlichkeit ohne Bedeu-
tung. Ein Beispiel für eine nur im Kurzzeitgedächtnis gespeicherte
Information ist eine Nummer, die wir aus dem Telefonbuch her-
aussuchen und nach dem Wählen wieder vergessen. Wenn wir sie
aber am nächsten Tag noch wissen, ist sie in das Langzeitgedächt-
nis gelangt.


71


Was geschieht nun, wenn unser Gehirn Informationen speichert?
Sobald wir unser Gedächtnis bereichern, geht im Gehirn eine viel-
leicht winzige, aber doch reale Veränderung vor sich. Es mutet
heute verblüffend an, daß dieser so naheliegende Gedanke erst
1904 ausgesprochen wurde. Damals stellte der deutsche Zoologe
Richard Semon die Hypothese auf, daß jeder Reiz, den ein Orga-
nismus erfährt, jede Information, die ein Lebewesen aufgenom-
men hat, eine charakteristische materielle Spur im Nervensystem
hinterläßt. Auf diese Spur, die Semon als "Engramm" bezeichne-
te, könne das Lebewesen bei Bedarf im späteren Leben zurück-
greifen2. Daß dieser Gedanke nicht schon viel früher ausge-
sprochen wurde, lag natürlich an der auch von Forschern lange ge-
hegten falschen Vorstellung, Geist existiere unabhängig von der
Materie. 

Welcher Art sind nun die materiellen Gedächtnisspuren? Sind sie
elektrischer Natur? Diese Theorie stellte in den fünfziger Jahren
der Hirnforscher und Nobelpreisträger John Eccles auf. Er nahm
än, daß Informationen, die als elektrische Impulse von den
Sinnesorganen zum Gehirn geleitet werden, weiter im Gehirn zir-
kulieren. Zwischen jeweils bestimmten Nervenzellen sollen sich
nach dieser Vorstellung elektrische Schwingungskreise ausbilden,
vergleichbar denen, die in Computern zur Speicherung von Infor-
mationen dienen können. Im Gehirn, so meinte Eccles, stehen In-
formationen so lange als Gedächtnisinhalte zur Verfügung, wie
die betreffenden Schwingungskreise aktiv bleiben (3).

Der Göttinger Neurologe Paul Glees stellte diese Hypothese auf
die Probe und widerlegte sie: Erlerntes bleibt erhalten, auch wenn
der Strom im Gehirn abgeschaltet wird. Glees kühlte die Gehirne
betäubter Affen auf etwa 18°C ab und brachte dadurch die
Schwingungskreise zum Erlöschen, was durch Hirnstrommessun-
gen bewiesen wurde. Für die Dauer von 45 Minuten, solange die
Unterkühlung fortgesetzt wurde, zirkulierten im Gehirn keine
Ströme. Doch als die Tiere nach Wiedererwärmung ihres Gehirns
aufwachten, hatten sie ihr Gedächtnis nicht verloren. Sie lösten
Testaufgaben, auf die sie trainiert worden waren, so mühelos wie
vor der Unterkühlung (4). Entsprechend zeigten auch andere Tiere
nach Unterkühlung bis zur Aufhebung aller meßbaren Hirn-
ströme zwar einen Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, aber nicht
des Langzeitgedächtnisses . Die Ergebnisse solcher Versuche sind
auf uns übertragbar, weil die Hirnzellen und Nervengewebe aller


72


Tiere und der Menschen ähnliche Eigenschaften aufweisen. Somit
führt ein Wegfall der elektrischen Hirnaktivität, wie er ja beim
Einfrieren auftritt, nicht zu einer Auslöschung des Langzeit-
gedächtnisses.

Da das Langzeitgedächtnis von der elektrischen Aktivität der Ner-
venzellen unabhängig ist, muß es bei der Einspeicherung von In-
formationen zu dauerhaften Veränderungen der Moleküle oder
organischen Strukturen kommen, aus denen das Gehirn besteht.
Somit werden die Inhalte des Langzeitgedächtnisses durch Mole-
küle und aus Molekülen aufgebaute organische Strukturen chif-
friert, d.h., es gibt im Gehirn Moleküle oder Strukturen, die
die Erinnerungen beschreiben. Dafür sprechen auch Tierexperi-
mente. Z.B. brachte der schwedische Forscher Holger Hyden jun-
gen Ratten bei, "auf einem Draht, der im steilen Winkel von
45 Grad aufwärts führte, zu balancieren - oben gab es das Futter.
Die anschließende Untersuchung der seiltanzenden Ratten zeigte,
daß bei diesen Tieren - verglichen mit Geschwistern, die den
Balanceakt nicht erlernt hatten - in den Nervenzellen des Gleich-
gewichtszentrums im Hirnstamm der RNS-Gehalt beträchtlich
vermehrt war. Überdies fand sich bei den Seiltänzern RNS unge-
wöhnlicher Zusammensetzung." (6) Hier wurden also nach dem
Lernen, d.h. nach der Einspeicherung von Informationen in das
Gedächtnis, Veränderungen der RNS-Moleküle in den Hirnzellen
nachgewiesen.

Die Gehirninformation umfaßt neben den Inhalten des Langzeit-
gedächtnisses auch die für die individuellen Gedankenabläufe,
Empfindungen, Gefühle und die gesamte Persönlichkeit wichtigen
organischen Eigenschaften des Gehirns, die ebenfalls von den Mo-
lekülen und Strukturen abhängen, aus denen es aufgebaut ist.
Deshalb bleibt die Gehirninformation beim Einfrieren erhalten,
wenn die dafür wichtigen Moleküle und Strukturen bewahrt wer-
den. Die Strukturen des Gehirns werden bestimmt von der räumli-
chen Anordnung seiner Zellen, ihren Verbindungen untereinan-
der, dem Aufbau der einzelnen Zellen und dem Aufbau ihrer
Bestandteile aus Molekülen. Welche Moleküle und Strukturen des
Gehirns für die Gehirninformation wesentlich sind, ist noch nicht
genau bekannt, da die Wissenschaftler bei der Erforschung des
Gehirns noch ganz am Anfang stehen.

Es gibt aber schon Forschungsergebnisse, die darauf hinweisen,
daß die Speicherung von Erinnerungen im Langzeitgedächtnis von


                                                          73


organisch-chemischen Makromolekülen im Inneren der Hirnzel-
len abhängig sein könnte. Für diese Hypothese sprechen zahlrei-
che Tierexperimente. Die ersten wurden Anfang der sechziger
Jahre mit Plattwürmern durchgeführt. Dem Psychologen James
McConnell von der Universität Michigan war es gelungen, diesen
niederen Lebewesen eine bestimmte Reaktion auf Licht anzudres-
sieren. Anschließend zerkleinerte er die Tiere und verfütterte sie
an gewöhnliche Plattwürmer, die daraufhin denselben Dressurakt
beherrschten oder zumindest wesentlich schneller erlernten. Ge-
dächtnisinhalte schienen von einem Lebewesen auf ein anderes
übertragbar. Offenbar, so folgerte James McConnell, war durch
die Dressur eine chemische Gedächtnissubstanz entstanden, die
durch Verfüttern auf die anderen Tiere überging.(7)

McConnells Versuche wurden zunächst von vielen Seiten ange-
zweifelt. Sie lösten erbitterte und überhitzte Diskussionen aus,
und Schlagzeilen wie "Weisheit durch Kannibalismus" oder "Ver-
speisen Sie einen Professor!" trugen nicht gerade zur Versach-
lichung bei. Noch Ende 1970 wurden auf einer Tagung deutscher
Naturforscher und Ärzte alle Versuche zur Gedächtnisübertra-
gung kategorisch als nicht reproduzierbar abgelehnt.(8)

Dennoch gelang die Übertragung von Gedächtnisinhalten auch
bei höheren Tieren, wie etwa Goldfischen, Mäusen, Hamstern
und Ratten. Beispielsweise brachte man Ratten ein ungewöhnli-
ches Verhalten bei, nämlich die Furcht vor dunklen Räumen. Nor-
malerweise zeigen Ratten als nachtaktive Tiere ine ausgesproche-
ne Vorliebe für das Dunkel, und so suchten sie zu Beginn des Trai-
nings den dunklen Teil ihres Käfigs auf. Dort gab es jedoch elek-
trische Schläge. Schon bald begriffen die Ratten die Lektion, und
freiwillig ging keine mehr in die Dunkelheit. Die Tiere hatten
gelernt, daß sie dort etwas Unangenehmes erwartet. Nach dem
Training wurden die Ratten getötet, um aus ihren Gehirnen einen
Extrakt zu gewinnen. Diesen Hirnextrakt spritzte man einer un-
trainierten Ratte in die Blutbahn und beobachtete ihr Verhalten in
puncto Dunkelheit. Nach einiger Zeit schien dieser Ratte eine
Erinnerung zu dämmern, die einem anderen Lebewesen gehört
hatte: Sie entwickelte ebenfalls eine Scheu vor dunklen Räumen,
als ob sie dort unangenehme Erfahrungen gemacht hätte (9).

Ähnliche Ergebnisse wurden auch bei vielen anderen Versuchen
erzielt, bei denen z.B. Goldfischen eine Vorliebe für grünes Licht
oder Ratten ein komplizierterer Dressurakt, nämlich die Orientie-


74


rung in einem bestimmten Labyrinth, beigebracht worden war.
Stets extrahierten die Forscher bestimmte chemische Substanzen,
nämlich RNS oder Proteine aus den Gehirnen von dressierten Tie-
ren und inj izierten sie dann solchen Tieren, die nicht dressiert
waren. Dadurch wurden bei diesen entsprechende
Verhaltensänderungen erreicht (10). Man weiß inzwischen, daß Ribo-
nukleinsäuren und Proteine, in ihrem Aufbau sehr komplizierte
organische Makromoleküle, Informationen jeder Art chiffrieren
können. Die Wissenschaftler nehmen deshalb und aufgrund ihrer
Tierversuche an, daß Ribonukleinsäuren und Proteine für die
Speicherung von Erfahrungen und Erinnerungen im Gedächtnis
der Lebewesen verantwortlich sind. Dafür liefern die bisherigen
Experimente allerdings noch keinen unumstrittenen Beweis. So
wurde eingewendet, daß die Injektion von Gehirnextrakten viel-
leicht nur eine Änderung von Vorlieben oder eine Verbesserung
der Lernfähigkeit bewirkt hat.(11)

Für die Hypothese von der makromolekularen Gedächtnisspeiche-
rung spricht aber eine theoretische Überlegung. Auch das geneti-
sche und das immunologische Gedächtnis der Lebewesen sind
nämlich durch organische Moleküle kodiert (12). Das erstere spei-
chert die von Generation zu Generation weitergegebene Erbinfor-
mation. Letzteres benötigt der Körper zur Erkennung und Ab-
wehr von Krankheitserregern. Es erscheint plausibel, anzuneh-
men, daß sich die Natur bei der Speicherung von Informationen
im Gehirn ähnlicher Mechanismen bedient.

Abgesehen von organischen Makromolekülen im Inneren der Zel-
len könnten auch andere Moleküle und Strukturen des Gehirns als
Träger von Erinnerungen in Frage kommen. So nehmen etliche
Hirnforscher an, daß die Eigenschaften der synaptischen Verbin-
dungen zwischen den Nervenzellen für das Langzeitgedächtnis
wichtig sind. Die synaptischen Verbindungen ermöglichen die
Übertragung elektrischer Reize von einer Nervenzelle zu einer an-
deren. Dazu hat jede Zelle eine Nervenfaser mit häufig sehr vielen
Verzweigungen. Diese enden dicht über der Membran, die eine an-
dere Nervenzelle umgibt. Solche Kontaktstellen heißen Synapsen.
Dort werden elektrische Signale mit Hilfe von chemischen Über-
trägersubstanzen von einer Nervenzelle zur anderen weiter-
gegeben.

Die meisten Nervenzellen im Gehirn verfügen über Tausende von
Synapsen, über die sie Informationen an andere Nervenzellen sen-


                                                         75


den können. Häufiger Gebrauch oder mangelnde Nutzung von
solchen Verbindungen führen zu dauerhaften Veränderungen der
dafür verantwortlichen Bestandteile der verknüpften Zellen. Da-
durch erhöht oder vermindert sich die Übertragungsfähigkeit der
synaptischen Verbindungen. Dieses wurde bei verschiedenen Ex-
perimenten an Tieren beobachtet. Es wird vermutet, daß die Ein-
speicherung von Informationen in das Langzeitgedächtnis auf
ähnlichen Mechanismen beruht (13). Dabei bilden sich eventuell
kurzzeitig elektrische Schwingungskreise zwischen bestimmten
Nervenzellen heraus, die zu einer häufigen Nutzung und dann zu
bleibenden Veränderungen ihrer Synapsen führen (14). Einige Wis-
senschaftler vermuten außerdem, daß "Gedächtnismoleküle",
d.h. Ribonukleinsäuren und Proteine, mit denen man Gedächtnis-
inhalte von einem Lebewesen auf ein anderes übertragen kann, die
Übertragungsfähigkeit der synaptischen Verbindungen beeinflus-
sen (15). Somit könnten die Inhalte des Langzeitgedächtnisses durch
Strukturen wie den Verbindungen der Nervenzellen untereinander
und deren Eigenschaften chiffriert sein, die vom Aufbau der dafür
verantwortlichen Zellbestandteile aus Molekülen bestimmt
werden.

Noch ist allerdings nicht sicher, ob die Speicherung von Informa-
tionen im Langzeitgedächtnis von den Eigenschaften der Verbin-
dungen zwischen den Nervenzellen abhängt. Amerikanische Bio-
logen fanden nach einfachen Lernvorgängen bei Meeresschnecken
eine erhöhte Erregbarkeit bestimmter Nervenzellen, d.h., ihre Be-
reitschaft zur Erzeugung elektrischer Reize war vergrößert. Bei
der untersuchten Art Hermissenda crassicornis handelt es sich um
primitive Organismen mit einem kleinen Nervensystem, das schon
mit heutigen Mitteln überschaubar ist. Wie die amerikanischen
Biologen feststellten, beruht die erhöhte Erregbarkeit der Nerven-
zellen auf einer Bindung von Phosphatgruppen an bestimmte Pro-
teine, die in der gesamten Zellmembran vorhanden sind. Diese
chemischen Veränderungen bestehen solange, wie das Erlernte be-
halten wird. Die Membran ist die Schutzhülle der Zellen. Sie regu-
liert den Ein- und den Ausstrom von Ionen (elektrisch geladenen
Teilchen) und damit die Erregbarkeit der Nervenzellen. Nach dem
Lernen wurden keine Veränderungen an den synaptischen Verbin-
dungen beobachtet. Alle Gedächtnisleistungen der Meeresschnek-
ken ließen sich ohne solche und nur durch chemische Veränderun-
gen von Membranproteinen erklären. (16)


76


Da die Nervenzellen der Menschen sich von denen der Hermis-
senda nicht wesentlich unterscheiden, funktioniert vielleicht auch
unser Gedächtnis so wie das der Schnecken. Daß wir viel mehr
und viel kompliziertere Informationen speichern, mag an unserer
bei weit.em größeren Anzahl von Nervenzellen und dem ganz an-
deren Schaltplan ihrer Verbindungen untereinander liegen. Der
amerikanische Biologe Daniel L. Alkon schrieb dazu: "Die grund-
legenden biophysikalischen und biochemischen Veränderungen,
die für eine Speicherung des Erlernten sorgen, müssen bei uns
nicht viel anders geartet sein als die nun bei Hermissenda aufge-
deckten Mechanismen." Somit könnte unser Langzeitgedächtnis
auch auf den chemischen Eigenschaften bestimmter Proteine in
den Membranen der Nervenzellen beruhen.

Da sämtliche Theorien über das Langzeitgedächtnis eine experi-
mentelle Grundlage haben, treffen sie vielleicht alle zu. Es ist
denkbar, daß die Inhalte des Langzeitgedächtnisses durch die
Eigenschaften von synaptischen Verbindungen und zusätzlich
durch organische Makromoleküle in den Zellen verschlüsselt sind.
Zugleich könnten sie auch durch Proteine in den Zellmembranen
und durch weitere noch nicht entdeckte Moleküle und Strukturen
chiffriert sein. Wegen ihrer riesigen Anzahl sind die Hirnzellen
durchaus in der Lage, alle Erinnerungen mehrfach und auf ver-
schiedene Weisen zu beschreiben. Die Menge der im Langzeitge-
dächtnis gespeicherten Informationen ist dafür nicht zu groß. Nur
ein geringer Teil der Bewußtseinsinhalte gelangt nämlich in das
Langzeitgedächtnis. Außerdem werden nur kleine Ausschnitte aus
den Sinneswahrnehmungen vom Bewußtsein zur Kenntnis genom-
men (17). So bemerken wir z.B. beim Betrachten einer Landschaft
nicht alle Details und erinnern uns später nur an einen kleinen Teil
dessen, was wir gesehen haben.




5.1.2 Die Erhaltung der Gehirninformation trotz möglicher
      Schäden beim Einfrieren


Gegenwärtig gibt es keine Projekte zur Untersuchung von Verfah-
ren für das Einfrieren von Gehirnen, obwohl dieses schon heute
den Sterbenden die Aussicht auf eine Wiedererweckung in der Zu-
kunft eröffnet. Gehirne können bei extrem tiefen Temperaturen
praktisch unbegrenzt vor dem Verfall geschützt werden. Das ist je-


                                                          77


doch kaum bekannt. Außerdem steht das Einfrieren von Gehirnen
mit dem Ziel einer späteren Wiedererweckung im Widerspruch zu
den Traditionen. Da es für die Kryokonservierung von Gehirnen
sonst keine medizinische Anwendung gibt, sind dafür zur Zeit
keine Forschungsmittel zu erwarten.

Es gibt jedoch in der Kryobiologie, die sich mit dem Verhalten von
Zellen, Geweben, Organen und ganzen Lebewesen bei niedrigen
Temperaturen beschäftigt, Forschungen mit anderen Zielen. Aus
den Ergebnissen und den heute schon vorhandenen Kenntnissen
über das Gehirn läßt sich schließen, daß die Aussichten für eine
vollständige Erhaltung der Gehirninformation beim Einfrieren
des Gehirns gut sind, obwohl dabei mit den heute bekannten Ver-
fahren Schäden an den Zellen nicht vermieden werden können.

So experimentierten japanische Wissenschaftler mit Katzenhir-
nen, um das Überleben der Nervenzellen bei Sauerstoffmangel zu
untersuchen s. Dabei gelang es ihnen, die Gehirne bei -20°C ein-
zufrieren und später wieder zum Leben zu erwecken. Eines be-
wahrten sie 203 Tage in einer Tiefkühltruhe auf. Seine elektrische
Aktivität nach dem Wiederauftauen ließ keine Anzeichen einer
Hirnschädigung erkennen. Der Neurologieprofessor Paul Glees
schrieb zu den mit Mikroelektroden gemessenen Hirnströmen so-
gar: "Ein aus dem Körper herausgenommenes Katzengehirn, das
für 203 Tage bei -20°C in Glycer.in eingefroren war, zeigte nach
dem Auftauen und mit künstlicher Durchblutung noch ein norma-
les EEG* (Elektroenzephalogramm)." (19) Mikroskopische Untersu-
chungen der Japaner ergaben eine fast normale Zellstruktur.
Selbst wenn man die Ergebnisse etwas kritischer bewertet als
Glees, weisen sie doch darauf hin, daß die Hirnzellen nicht beson-
ders empfindlich gegen Kälte sind. Sie überlebten auch mehr als
zwei Stunden ohne Sauerstoff bei der Vorbereitung für das Ein-
frieren.

Dafür entwickelten die Japaner ein schonendes Verfahren, das
wegen der ähnlichen Eigenschaften der Nervengewebe aller Säuge-
tiere als Vorbild für die Einleitung des Tiefkühlschlafs auch bei
Menschenhirnen dienen kann. Dabei ist der Kreislauf im Gehirn
mit einer Herz-Lungen-Maschine aufrechtzuerhalten. Das Blut
vird zunächst durch eine auf l0°C gekühlte Mischung aus einer
Salzlösung und Dextran (Ersatzmittel für das Blutplasma) ersetzt.


* Als Elektroenzephalogramm bezeichnet man die Aufzeichnung der Hirnströme.
  Das EEG gibt Aufschluß über die elektrische Aktivität des Gehirns.


78


Während die Herz-Lungen-Maschine diese Flüssigkeit durch das
Gehirn pumpt, wird es vom Körper isoliert. Dann wird zu der
Salzlösung und dem Dextran allmählich Glycerin hinzugefügt, das
Nerven- und andere Gewebe gegen Schäden beim Einfrieren
schützt. Schließlich wird das Gehirn in einen Plastikbehälter ver-
senkt, der mit derselben Mischung aus Salzlösung, Dextran und
Glycerin gefüllt ist. Dieser wird dann in eine Tiefkühltruhe ge-
stellt.

Die weitere Abkühlung auf extrem tiefe Temperaturen wie die des
flüssigen Stickstoffs von -196°C, die für eine Langzeitlagerung
benötigt werden, muß bei großen Organen wie dem menschlichen
Gehirn langsam erfolgen, weil die Wärme aus dem Inneren nicht
so schnell abgegeben werden kann (20). Bei der langsamen Tempera-
tursenkung tritt das in den Zellen befindliche Wasser aus und kri-
stallisiert außerhalb der Zellen zu Eis. Dadurch schrumpfen die
Zellen ein (21).

Vor Schäden durch das langsame Abkühlen, die z.B. aufgrund der
im Inneren der Zellen entstehenden hohen Salzkonzentrationen
drohen, schützen bestimmte Chemikalien wie das Glycerin (22). Viele
Versuche haben bewiesen, daß derartige Substanzen auch beim
Einfrieren von Hirngeweben Schäden verkleinern oder sogar ver-
hindern (23). Wie ganze Gehirne damit durchtränkt werden können,
zeigten erstmals 1965 japanische Wissenschaftler in dem oben be-
schriebenen Versuch an Katzenhirnen und später amerikanische
Forscher an Kaninchen- und Rattenhirnen (24).

Zellen und kleine Zellverbände der verschiedensten Art überleben
das langsame Abkühlen, die Lagerung bei der Temperatur von
-196°C und die spätere Wiedererwärmung (25). So werden Blut,
Knochenmark, Zellkulturen, Eizellen, Sperma und Tierembryo-
nen für eine längere Aufbewahrung routinemäßig bei extrem tie-
fen Temperaturen konserviert. Auch das englische Retortenbaby
Louise Brown ist aus einem befruchteten Ei entstanden, das die
Ärzte vor der Implantation in die Mutter 53 Tage lang eingefroren
hatten (26). Diese Beispiele zeigen, daß die empfindlichen organi-
schen Strukturen und Moleküle, die für die Lebensfähigkeit von
Zellen wichtig sind, das Einfrieren überstehen.

Es ist zwar bisher noch nicht gelungen, ganze Organe auf extrem
tiefe Temperaturen abzukühlen und dann wieder zu normaler Le-
benstätigkeit zurückzubringen, weil es bei so massiven Zellverbän-
den sehr schwierig ist, für alle Zellen verschiedener Typen günstige


                                                          79


Bedingungen herzustellen (27). Trotzdem ist zu erwarten, daß sich
die Schäden bei der Kryokonservierung von Gehirnen in Grenzen
halten werden. So überlebten embryonale Rattenhirngewebe die
Abkühlung auf -96°C, die anschließende Lagerung und die
spätere Wiedererwärmung. Nach einer Transplantation in neuge-
borene Tiere wuchsen und integrierten sie sich genau so gut wie
frisch übertragene (28). Trotz der gewaltigen Unterschiede zwischen
dem Hirn eines Rattenembryos und dem eines Menschen gibt es
doch entscheidende Gemeinsamkeiten. Beide bestehen nämlich
aus Nerven- und anderen Zellen, die bei allen Säugetieren ähnlich
aufgebaut und aus empfindlichen organischen Strukturen und
Molekülen zusammengesetzt sind.

Zwar erhöht die Tatsache, daß das menschliche Gehirn viel größer
ist, das Risiko von Veränderungen beim Abkühlen. Diese brau-
chen aber nicht so gravierend zu sein, weil Schutzsubstanzen, wel-
che Schäden beim Einfrieren verkleinern oder verhindern, über
das weit verzweigte Netz der Blutgefäße in das Innere des Organs
gebracht werden können. Das zeigen die schon besprochenen Ver-
suche an ausgewachsenen Säugetiergehirnen. Bei der Abkühlung
auf -196°C sind höchstens geringfügig größere Schäden als bei
der auf -96°C zu befürchten, weil nach Ansicht der Kryobiolo-
gen das Passieren des Temperaturbereichs zwischen ungefähr
-15°C und -60°C für die Zellen am gefährlichsten ist(29)*. So-
mit ist anzunehmen, daß die Moleküle und Strukturen der Hirn-
zellen beim Einfrieren teilweise erhalten bleiben.

Das dürfte zwar für das Überleben des komplizierten Organs im
Falle einer Wiedererwärmung nicht ausreichen, sehr wohl aber für
die Bewahrung der in seinen Molekülen und Strukturen chiffrier-
ten Seeleninformation. Schon kleinere Schäden an lebenswichti-
gen Strukturen wie der Zellmembran, die ihre Funktionen beein-
trächtigen, sind nämlich für die Zellen tödlich. Hingegen sind für
die Seeleninformation wahrscheinlich nur bestimmte Teile solcher
Strukturen wichtig, die selbst bei größeren Zerstörungen an ihnen
erhalten bleiben.

Falls z.B. die im vorherigen Abschnitt dargestellte Hypothese zu-
trifft, nach der die Einspeicherung von Informationen in das






* Allerdings könnte die Zahl -96°C in dem Forschungsbericht ein Druckfehler
 sein. Eine Lagerung bei dieser Temperatur ist äußerst unüblich. Wahrscheinlich
 haben die Autoren also -196°C gemeint.


80


Langzeitgedächtnis auf der Bindung von Phosphatgruppen an be-
stimmte Membranproteine beruht, sind die Erinnerungen nicht
verloren, solange nur diese Moleküle erhalten bleiben. Diese Be-
dingung braucht nur für einen kleinen Teil der Membran einer
Zelle erfüllt zu sein, da bei der Einspeicherung von Gedächtnis-
inhalten die Moleküle in der gesamten Membran in der gleichen
Weise verändert werden (30). Ein winziger Ausschnitt aus einer Zell-
membran enthält also dieselben Informationen über die Erinne-
rungen wie der ganze Rest. Folglich bleiben die in der Zellmem-
bran chiffrierten Informationen über die Gedächtnisinhalte auch
dann erhalten, wenn sie selbst zum größten Teil zerstört ist.
Bei weiteren Fortschritten in der Wissenschaft werden irgendwann
solche in beschädigten Strukturen noch vorhandenen Informatio-
nen ermittelt werden können. Wie in der Zukunft die in dem ein-
gefrorenen Gehirn enthaltene Seeleninformation aufgezeichnet
werden könnte, wird in Abschnitt 5.3 (Seite 89 f) beschrieben.
Selbst wenn empfindliche Moleküle denaturiert sind, braucht das
nicht den Verlust der durch sie chiffrierten Teile der Gehirninfor-
mation zu bedeuten. Z.B. werden nach der obigen Hypothese die
Gedächtnisinhalte für die spätere Wiedererweckung bewahrt,
wenn nur die Bindung der Phosphatgruppen an die Membranpro-
teine mit den Analyseverfahren der Zukunft noch erkennbar ist,
aber die Moleküle sonst zerstört sind.

Auch wenn die heutigen Vermutungen über die Rolle der Mem-
branproteine bei der Gedächtnisspeicherung nicht zutreffen soll-
ten, ist anzunehmen, daß die Seeleninformation erhalten bleibt,
wenn die Moleküle und Strukturen im Gehirn beschädigt werden
und nur bestimmte Merkmale von ihnen das Einfrieren überste-
hen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß alle Eigenschaften der
Moleküle und Strukturen des Gehirns für die Seeleninformation
wichtig sind. Die Menge der Moleküle im Gehirn ist nämlich viel
größer als die der Informationen, die im Langzeitgedächtnis ge-
speichert sind, welches für die individuelle Persönlichkeit ent-
scheidend ist.

So vermuten Wissenschaftler aufgrund von Experimenten, daß
unser Langzeitgedächtnis höchstens 1 Milliarde Informationsein-
heiten aufnehmen kann, d.h., daß sich alle bewußten und unbe-
wußten Erinnerungen durch 1 Milliarde Bits beschreiben lassen (3l).
Auch wenn diese Schätzung zu niedrig sein sollte, ist die Zahl der
Moleküle im Gehirn bei weitem größer. Es umfaßt etwa 1 Billion


                                                           81


(d.h.1000 Milliarden) Zellen, von denen jede einzelne aus Milliar-
den von Molekülen besteht. Somit brauchen Schäden an ihnen
nicht zum Verlust der Gehirninformation zu führen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, hinsichtlich der vollständigen
Erhaltung der Gehirninformation optimistisch zu sein, ohne die
durch das Einfrieren verursachten Schäden außer acht zu lassen.
Die für die Gehirninformation wichtigen Moleküle und Struktu-
ren sind nämlich mehrfach vorhanden, was sich aus Beobachtun-
gen an Tieren schließen läßt. Z.B. entfernte der amerikanische
Forscher Karl Lashley in einem inzwischen berühmt gewordenen
Experiment systematisch verschiedene Teile der Großhirnrinde
von Ratten. Es gelang jedoch in keinem Fall, dadurch vorher er-
lernte Fähigkeiten der Tiere auszulöschen, obwohl sie irgendwie in
der Großhirnrinde gespeichert sein müssen (32). Die Tiere verloren
ihr Wissen nicht einmal nach der Zerstörung von 90 % ihres Groß-
hirns (33). Somit sind die Moleküle und Strukturen zur Beschreibung
der Gedächtnisinhalte mehrfach und an verschiedenen Stellen im
Gehirn vorhanden.

Entsprechendes gilt auch für die Moleküle und Strukturen, die für
andere Hirnfunktionen wichtig sind. So "kann man beträchtliche
Mengen vom motorischen Kortex abtragen, ohne auch nur eine
einzige Muskelgruppe zu lähmen. Alles, was dabei geschieht, ist
eine generelle Verschlechterung der motorischen Leistungen insge-
samt." (34) Die Fähigkeit zu willkürlichen Muskelbewegungen bleibt
aber erhalten, obwohl der motorische Kortex der dafür zuständige
Hirnteil ist. Weil die Nervengewebe aller Säugetiere ähnlich aufge-
baut sind, läßt sich aus diesen Versuchen schließen, daß auch beim
Menschen trotz aller Unterschiede zu den Tieren die für die Ge-
hirninformation wichtigen Moleküle und Strukturen mehrfach
vorhanden sind. Somit bedeutet die Zerstörung eines Teils von
ihnen nicht den Verlust der Gehirninformation.

Aus dem bisher Gesagten folgt, daß die für die Persönlichkeit
wichtigen Informationen, die durch Moleküle und Strukturen in
den Hirnzellen chiffriert sind, trotz der durch das Einfrieren ver-
ursachten Schäden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht verloren
gehen. Das gilt auch für die genetische Erbinformation, die für die
spätere Rekonstruktion des Körpers benötigt wird. Sie ist im Zell-
kern jeder Hirnzelle und damit im ganzen Gehirn mehr als 100-
milliardenmal vorhanden. Deshalb bleibt sie auch dann erhalten,
wenn ein Teil der Zellkerne zerstört wird.


82


Wegen des Einschrumpfens der Zellen beim langsamen Abkühlen
ist allerdings zu befürchten, daß die Verbindungen zwischen ihnen
auseinandergehen. Darüber hinaus könnte die Bildung von Eis
außerhalb der Zellen zu Verschiebungen in ihrer räumlichen An-
ordnung führen. Informationen über die Verknüpfungen zwi-
schen den Zellen und ihre räumliche Anordnung sind jedoch auch
in der genetischen Erbinformation enthalten. Diese steuert näm-
lich die gesamte Entwicklung des Gehirns und insbesondere die
Entstehung der Zellen verschiedener Typen, ihre räumliche An-
ordnung und den Aufbau der Verbindungen zwischen ihnen.
Außerdem liefert eine genaue Untersuchung des eingefrorenen
Gehirns eine Reihe weiterer Informationen, z.B. über das Ausse-
hen der eingeschrumpften Zellen und über die Lage und die Form
der Eiskristalle.

Es ist zu erwarten, daß sich daraus und aus der genetischen Infor-
mation mit fortgeschrittenen Technologien der Zukunft die Ver-
knüpfungen zwischen den Zellen rekonstruieren lassen, weil dann
die Regeln ihres Aufbaus und die physikalischen und biologischen
Vorgänge beim Einfrieren genauer bekannt sein werden. Entspre-
chendes gilt auch für die räumliche Anordnung der Zellen, die
beim Abkühlen auf extrem tiefe Temperaturen ungefähr erhalten
bleibt, weil die Zellen dabei nicht durcheinander gewirbelt wer-
den. Für die spätere Ermittlung der Verbindungen zwischen den
Zellen könnten auch chemische Moleküle Informationen liefern.
Die Hirnforscher nehmen nämlich an, daß es Moleküle an der
Zelloberfläche den Zellen ermöglichen, sich untereinander zu er-
kennen und sich aneinander zu binden (35).

Weil die Moleküle und Strukturen, die die Gehirninformation
chiffrieren, mehrfach vorhanden sind, müssen zu ihrer vollständi-
gen Ermittlung die genaue Anordnung der Zellen und ihre Verbin-
dungen untereinander nur teilweise rekonstruiert werden. Aus den
bisherigen Betrachtungen folgt, daß dafür wahrscheinlich genü-
gend Informationen erhalten bleiben, obwohl das Einfrieren zu
Schäden führt.

Sollten allerdings die Hypothesen zutreffen, nach denen die
Inhalte des Langzeitgedächtnisses durch über die Hirnzellen ver-
teilte Makromoleküle chiffriert sind, und sollte das auch für ande-
re persönlichkeitsbestimmende Eigenschaften des Gehirns gelten,
brauchen die ursprüngliche Anordnung der Zellen und ihre Ver-
bindungen untereinander gar nicht rekonstruiert zu werden. Dann


                                                          83


genügt die Ermittlung der durch die Moleküle in den Hirnzellen
chiffrierten Informationen.

Aus dem bisher Gesagten folgt, daß die Seeleninformation beim
Abkühlen des Gehirns auf extrem tiefe Temperaturen nicht verlo-
rengehen muß, obwohl Gehirne noch nicht ohne Schäden einge-
froren werden können. Ihre Strukturen und Moleküle bleiben
nämlich trotzdem mit hoher Wahrscheinlichkeit soweit erhalten,
daß sie die Persönlichkeit des Individuums einschließlich aller
seiner Gedächtnisinhalte vollständig beschreiben.

Am günstigsten ist es, wenn der Einfriervorgang beim noch leben-
den Gehirn begonnen wird. Es gibt Situationen, in denen das sinn-
voll und ethisch zulässig ist, so z.B. bei unheilbaren, mit großen
Schmerzen verbundenen und in kurzer Zeit zum Tode führenden
Krankheiten. Um den Patienten unnötige Qualen zu ersparen, ge-
ben manche Ärzte ihnen Gift, damit sie sich selbst umbringen
können. Es wäre besser, bei Sterbenden, die dieses wollen, das Ge-
hirn einzufrieren. Das bietet nämlich die Chance, das Leben zu er-
halten. Der Todkranke erleidet dadurch keine Schmerzen, weil er
vorher narkotisiert wird. Er beginnt eine lange Zeitreise mit der
durchaus begründeten Hoffnung auf eine spätere Wiederer-
weckung.


5.1.3 Die Umkehrbarkeit des Todes


Auch wenn das Gehirn erst nach dem Tod eingefroren wird, beste-
hen Aussichten auf eine vollständige Erhaltung der Gehirninfor-
mation und eine spätere Wiedererweckung. Man kann nämlich
davon ausgehen, daß die im Gehirn enthaltene Information nicht
sofort nach dem Sterben verlorengeht.

Zwar kommt es meistens wenige Minuten nach einer Unterbre-
chung der Blutzirkulation zu tödlichen Schäden am Gehirn. Wie
die Experimente der Japaner an den Katzenhirnen zeigen, beruhen
diese jedoch nicht auf einer hochgradigen Empfindlichkeit der
Nervenzellen gegen den Sauerstoffmangel. Sie könnten vielmehr
durch eine mit dem Aufhören der Blutzufuhr verbundene irrepa-
rable Störung der feinen Blutgefäße im Gehirn verursacht wer-
den (36). Somit ist es durchaus möglich, daß die Nervenzellen noch
Iängere Zeit nach dem Tod im wesentlichen unzerstört bleiben.
Auch nachdem sie zugrunde gegangen sind, ist die Gehirninfor-
mation noch nicht verloren. Schließlich beruht der Zelltod nur auf


84


heute noch nicht behebbaren Schäden an lebensnotwendigen
Funktionseinheiten der Zellen. Diese brauchen die für die Gehirn-
information wichtigen Moleküle und Strukturen gar nicht zu be-
treffen. Wenn sie nicht zu stark beschädigt sind, werden sie in der
Zukunft mit fortgeschrittenen Technologien rekonstruiert werden
können, weil dann die Regeln ihres Aufbaus und die Zerfallsvor-
gänge nach dem Tod genauer bekannt sein werden.

Weil wir heute noch nicht wissen, welche Moleküle und Struk.tu-
ren für die Gehirninformation wesentlich sind und wie lange sie
nach dem Tod erhalten bleiben, ist möglichst früh mit dem Ein-
frieren des Gehirns zu beginnen, falls der Verstorbene eine Zeit-
reise gewünscht hat.

Dafür gibt es noch einen weiteren Grund. Bald nach dem Ableben
verstopfen nämlich die Blutgefäße, was das Einbringen der
Schutzsubsta nzen erschwert. Allerdings glauben amerikanische
Wissenschaftler, die Gehirne von Tieren mit diesen Schutzsub-
stanzen durchtränkten, daß das beim menschlichen Gehirn auch
nach dem Tod noch möglich ist. So heißt es in einem Aufsatz über
histologische Untersuchungen: "Das Durchtränken des gesamten
Gehirns mit Substanzen, die vor Schäden beim Einfrieren schüt-
zen, . . . könnte auch nützlich sein bei der Erforschung von ande-
ren Aspekten der Hirnstruktur und -funktion, insbesondere im
Fall biochemischer und pathologischer Untersuchungen an Gehir-
nen von toten Menschen." (37) Für dieses Buch ist die Durchführung
von histologischen Untersuchungen nicht interessant, sehr wohl
aber die Möglichkeit, das Gehirn eines Verstorbenen mit Schutz-
substanzen zu durchtränken, weil dadurch die Schäden beim Ein-
frieren vermindert werden.

Aber auch wenn das nicht mehr möglich sein sollte, kann man
auf eine Wiederauferstehung des Toten in der Zukunft hoffen,
wenn sein Gehirn tiefgekühlt wird. Selbst starke Beschädigungen
des Gehirns durch eine Verzögerung zwischen Tod und Einfrieren
und durch grobe Abkühlungsmethoden müssen nämlich nicht
zum Verlust der Persönlichkeitseigenschaften und der Gedächtnis-
inhalte führen, weil noch genügend Moleküle und Strukturen zu
ihrer vollständigen Beschreibung übrig geblieben sein könnten.
Entsprechendes gilt bei Zerstörungen am Gehirn durch Unfälle
oder Krankheiten. Auch bei sehr stark beschädigten Gehirnen
sind eine vollständige Ermittlung der Seeleninformation und eine
Wiedererweckung in der Zukunft keinesfalls ausgeschlossen, weil


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  dann wahrscheinlich dafür geeignete Techniken zur Verfügung
  stehen werden, von denen wir heute noch gar nichts ahnen.

  Diese Betrachtungen weisen darauf hin, daß. das Sterben als ein
  Schritt für Schritt in Etappen ablaufender Vorgang zu verstehen
  ist, in den man eingreifen kann, um ein Weiterleben zu ermög-
  lichen. Es beginnt mit dem klinischen Tod, der durch das AuFhö-
  ren von Herzschlag und Atmung gekennzeichnet ist. Dazu Robert
  F. Schmidt, Professor der Medizin: "Jahrtausendelang war das
  schlagende Herz ein Symbol für Leben, für Am-Leben-Sein. Wes-
  sen Herz aufgehört hatte zu schlagen und wessen Atmung stoppte,
  galt für tot. Erst die moderne Wiederbelebungsmedizin (Reanima-
  tionstherapie) hat uns gelehrt, daß eine innerhalb gewisser zeit-
  licher Grenzen durchgeführte Massage des Herzens, zusammen
  mit einer gleichzeitig durchgeführten künstlichen Beatmung, in
  vielen Fällen ausreicht, den plötzlichen Herzstillstand zu beheben
  und damit .den Tod abzuwenden. Jeder Autofahrer wird heute
  über die Technik der am Unfallort durchführbaren Wiederbele-
  bungsmaßnahmen unterrichtet." (38)

  Erst nach dem Tod des Gehirns ist eine Wiederbelebung mit den
  gegenwärtig bekannten Mitteln nicht mehr möglich. Das bedeutet
  aber noch nicht das unwiderrufliche Ende des Lebens, da das Ge-
  hirn durch eine Konservierung bei extrem tiefen Temperaturen für
  fast unbegrenzte Zeit erhalten werden kann. Die Hoffnung auf
  eine Wiedererweckung durch fortgeschrittene Technologien der
  Zukunft ist deshalb berechtigt. Somit ist wahrscheinlich auch der
  Hirntod umkehrbar, obwohl er von der konventionellen Medizin
  ebenso wie früher der klinische Tod als endgültig betrachtet wird.
  Eine Wiedererweckung ist erst ausgeschlossen, wenn die für die
  Gehirninformation wichtigen Moleküle und Strukturen zerstört
  sind. Das ist mit Sicherheit nach dem Verbrennen des Gehirns in
  einem Krematorium oder dem Verwesen in einem gewöhnlichen
  Grab der Fall. Wenn nicht besondere, im 7. Kapitel erläuterte Vor-
  kehrungen getroffen wurden, ist das Individuum ausgelöscht und
  wird niemals wieder auferstehen. Dann erst ist der Tod endgültig.










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5.2 Die Langzeitkonservierung des Gehirns
    bei extrem tiefen Temperaturen




Das eingefrorene Gehirn muß erhalten werden, bis eine Aufzeich-
nung der in ihm enthaltenen Informationen oder eine Wieder-
erweckung möglich sind. Da das noch sehr lange dauern kann,
sind extrem tiefe Lagerungstemperaturen notwendig. Je niedriger
nämlich die Temperatur ist, desto langsamer laufen chemische Re·-
aktionen ab, die zu einer Zerstörung der Moleküle und Strukturen
des Gehirns führen können.

Mit flüssigem Stickstoff läßt sich eine ununterbrochene Kühlung
bei -196°C erreichen. An so konservierten Zellen wurden nach
mehreren Jahren keine Veränderungen festgestellt (1). Es gibt keinen
Fall eines Zelltodes, der durch die Dauer der Lagerung bei
-196°C verursacht wurde (2). Diese Aussage beruht auf Beobach-
tungen in Zeiträumen bis zu 15 Jahren. Es ist anzunehmen, daß
die für die Lebensfähigkeit von Zellen notwendigen und ebenso
die für die Gehirninformation wichtigen organischen Strukturen
und Moleküle auch bei erheblich längerer Lagerung nicht zerstört
werden. Bei -196°C ist nämlich nicht mehr genügend Wärme-
energie vorhanden, um chemische Reaktionen auszulösen. Nach
Einschätzung des amerikanischen Kryobiologen Peter Mazur kön~
nen lebende Zellen bei -196°C für Jahrhunderte oder Jahr-
tausende erhalten werden (3). Sein Kollege Harold T. Meryman
meint zur Konservierung von lebenden Zellen und Geweben
"Unter allen Umständen kann man eine Lagerung in flüssigem
Stickstoff bei -197°C auf unbestimmte Zeit im wesentlichen als
möglich ansehen."(4)

Noch günstiger für eine Langzeitkonservierung unbekannter
Dauer ist die Lagerung bei Temperaturen dicht über dem absolu-
ten Nullpunkt von -273°C, die sich mit flüssigem Helium unun~
terbrochen aufrechterhalten lassen (5). Dabei laufen biochemische
Reaktionen nämlich noch etwa 10^13 =10.000.000.000.000 = zehn-
billionenmal langsamer ab als bei der Temperatur des flüssigen
Stickstoffs, obgleich ihre Geschwindigkeit auch hier schon sehr
niedrig ist (6).

Bisher ist keine Grenze für die Lagerungsdauer in flüssigem Stick-
stoff bekannt. Über die schonende Abkühlung von Zellen und Ge-
weben auf die Temperatur des flüssigen Stickstoffs von -196°C


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gibt es viel mehr wissenschaftliche Erkenntnisse als über die
Abkühlung auf die Temperatur des flüssigen Heliums, wenige
Grade über dem absoluten Nullpunkt. Deshalb ist es sinnvoll, die
Gehirne zunächst bei der Temperatur des flüssigen Stickstoffs ein-
zufrieren. Sobald untersucht worden ist, ob die weitere Abküh-
lung auf Temperaturen dicht über dem absoluten NuIIpunkt zu
irgendwelchen Schäden führt und wie diese vermieden werden
können, sollten die Gehirne mit flüssigem Helium gekühlt werden.
Es ist zu erwarten, daß die Abkühlung von der Temperatur des
flüssigen Stickstoffs auf die des flüssigen Heliums keine Schwie-
rigkeiten bereiten wird, weil, wie schon in Abschnitt 5.1.2 er-
wähnt, die Schäden beim Einfrieren und Wiedererwärmen haupt-
sächlich im Bereich zwischen ungefähr -15°C und -60°C ent-
stehen.

Bei extrem tiefen Temperaturen treten praktisch keine chemischen
Reaktionen mehr auf. Eine ernste Gefahr bilden dann nur noch
ionisierende (energiereiche und deshalb schädliche) Strahlen.
Zwar ist die Intensität der natürlichen Strahlung gering. Da sie
aber ununterbrochen auf die eingefrorenen Gehirne einwirkt,
sammeln sich in einigen Jahrtausenden Strahlendosen an, die für
die meisten lebenden Zellen tödlich wären (7). Die schädlichen
Strahlen kommen im wesentlichen aus zwei Quellen. Das sind die
kosmische Strahlung (Strahlung aus dem Weltall) und die radioak-
tiven Atome, die in bestimmten Mineralien und Gesteinen gehäuft
vorkommen. Darüber hinaus haben in einigen Gebieten Atom-
waffentests und schwere Unfälle in Kernkraftwerken erhebliche
zusätzliche Belastungen verursacht.

Die Strahlendosen aus natürlichen und künstlichen Quellen lassen
sich beträchtlich verringern durch eine unterirdische Lagerung der
Gehirne in Kellern, die aus Materialien mit geringer Radioaktivi-
tät gebaut sind. Dort sind sie nämlich gegen einen großen Teil der
äußeren Strahlung geschützt. So ergeben sich erst nach Zehn-
tausenden von Jahren durch inkorporierte (im Körper befind-
liche) radioaktive Atomarten Strahlenbelastungen, die für Iebende
Zellen gefährlich wärens. Auch diese jedoch brauchen für die kon-
servierten Gehirne keine Gefahr zu bilden. Extrem tiefe Tempera-
turen schützen nämlich vor den schädlichen Wirkungen ionisieren-
der Strahlen (9). Außerdem führen für viele Zellen tödliche Verän-
derungen noch nicht zum Verlust der Gehirninformation (wie be-
reits in Abschnitt 5.1.2 begründet wurde).


88


Somit läßt sich die Seeleninformation durch eine Konservierung
des Gehirns bei extrem tiefen Temperaturen wahrscheinlich für
mindestens 100.000 Jahre erhalten. Wenn es den Wissenschaftlern
in der Zukunft gelingt, Strahlenschäden zu verhindern, können
die Gehirne sogar für noch erheblich längere Zeiträume in dem
Zustand bewahrt werden, in dem sie einst eingefroren wurden.




5.3 Die Wiedererweckung


Im folgenden wird beschrieben, wie man sich die Wiedererwek-
kung der im Tiefkühlschlaf Zeitreisenden heute vorstellen kann.
Auch hier ist zu erwarten, daß in der Zukunft viel elegantere Mög-
lichkeiten,entdeckt werden, von denen wir mit unserem heutigen
Wissen noch gar nichts ahnen.

Für die Wiedererweckung eines Zeitreisenden ohne Veränderun-
gen seiner Persönlichkeit müssen die Moleküle und Strukturen sei-
nes Gehirns soweit erhalten geblieben sein, daß sie seine Seelen-
information vollständig beschreiben. Das wird nach den Ausfüh-
rungen in den vorangegangenen Abschnitten wahrscheinlich er-
füllt sein.

Es ist denkbar, daß die Ärzte der Zukunft die in dem eingefrore-
nen Gehirn enthaltene Information von Robotern aufzeichnen las-
sen, die es mit hochempfindlichen Instrumenten untersuchen. Da-
bei ermitteln sie die für die Seeleninformation wichtigen Eigen-
schaften der Moleküle des Gehirns und ihrer Beziehungen unter-
einander, z.B. ihren Zusammenschluß zu organischen Strukturen.
Ähnlich wie schon heute einige Roboter alle von ihren Sensoren
aufgenommenen Informationen gleichzeitig verarbeiten, werden
die hochentwickelten Roboter der fernen Zukunft sehr viele Meß-
daten gleichzeitig sammeln. Trotzdem wird dieser Vorgang ziem-
lich lange dauern, weil das Gehirn aus einer riesigen Anzahl von
Molekülen besteht. Ein Zerfall der für die Gehirninformation
wichtigen Moleküle und Strukturen läßt sich aber dadurch verhin-
dern, daß die noch nicht untersuchten Bereiche weiterhin bei
extrem tiefen Temperaturen aufbewahrt oder die Analysen selbst
dabei durchgeführt werden. Für die Wiedererweckung des Zeitrei-
senden ist nur wichtig, daß die Gehirninformation vollständig er-
mittelt wird. Ob das einige Jahre früher oder später erfolgt, ist


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nicht entscheidend. Die erforderlichen Techniken werden bei wei-
terer Entwicklung der Wissenschaft irgendwann zur Verfügung
stehen. Zwar ist es bis dahin noch ein weiter Weg, aber immerhin
gibt es schon heute Spezialmikroskope, deren Auflösungsvermö-
gen ausreicht, sogar einzelne Atome sichtbar zu machen (1).

Die von den Robotern gesammelten Meßdaten bilden eine Auf-
zeichnung der in dem eingefrorenen Gehirn enthaltenen Informa-
tion. Weiterentwickelte Computer ermitteln daraus den ursprüng-
lichen Zustand des Gehirns mit allen für die Persönlichkeit wichti-
gen Merkmalen. Sie sind dazu in der Lage, weil in den sie steuern-
den Programmen alle Regeln des Aufbaus der Moleküle und
Strukturen des Gehirns und sämtliche physikalischen, chemischen
und biologischen Vorgänge nach dem Tod und beim Einfrieren be-
rücksichtigt sind. Der Bau der erforderlichen Computer wird bei
weiteren technischen Fortschritten irgendwann gelingen, da Elek-
tronenrechner schon heute riesige Datenmengen verarbeiten und
die Anzahl der für die Seeleninformation wesentlichen Eigen-
schaften des tiefgekühlten Gehirns zwar ziemlich groß, aber end-
lich ist. Schließlich ist das menschliche Gehirn nur ein kleines Or-
gan aus endlich vielen Molekülen und Atomen. Außerdem ist
wahrscheinlich nur ein geringer Teil seiner Moleküle für die See-
leninformation wichtig (Begründung s. S. 81 f).

Für die Wiedererweckung des Zeitreisenden wird sein Körper
ohne die durch Krankheiten und das Alter verursachten Schäden
rekonstruiert. Die dazu erforderliche genetische Information ist in
den Zellen des eingefrorenen Gehirns vorhanden. Falls der Zeit-
reisende in seinem ersten Leben an erblichen Körperfehlern litt,
wird die fortgeschrittene Medizin der Zukunft die verantwort-
lichen Gene reparieren. Schon heute ist es im Laborversuch mög-
lich, die genetische Information in menschlichen Zellen so zu ver-
ändern, daß erbliche Defekte geheilt werden (2).

Zur Übertragung der Seeleninformation des Zeitreisenden in den
neuen Körper werden anhand der von den Computern errechneten
Daten mit gentechnischen Verfahren Makromoleküle und Viren
erzeugt (wie in Abschnitt 4.3 erläutert). Diese versetzen das neue
Gehirn in allen für die individuelle Persönlichkeit wichtigen Merk-
malen in den Zustand, in dem das eingefrorene Gehirn vor dem
Tod und vor der Tiefkühlung war. So wird der Zeitreisende aus
dem Tiefkühlschlaf erweckt, ohne daß dadurch seine Persönlich-
keit verändert wurde.


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Nach seiner Wiederauferstehung wird er von allen Gebrechen und
Behinderungen befreit sein, die ihn in seinem ersten Leben gequält
haben, denn er erhält ja einen neuen, jungen und gesunden Kör-
per. Wenn er an einer Krankheit starb, wird er also wieder gesund
sein. Starb er verstümmelt, wird er sich wieder als ein Mensch mit
einem ganzen Körper sehen; und starb er an Altersschwäche, wird
er seine Jugend zurückgewinnen.

Nach einer genaueren Erforschung des Gehirns könnte die Wie-
dererweckung der Zeitreisenden allerdings auch mit Verfahren ge-
lingen, die viel einfacher sind als das bisher dargestellze. Wie
schon in Abschnitt 5.1.1 erläutert, gibt es z.B. Forschungsergeb-
nisse, die darauf hinweisen, daß die Inhalte des Langzeitgedächt-
nisses, welches für die Persönlichkeit entscheidend ist, durch or-
ganische Makromoleküle verschlüsselt sein könnten. Diese bewir-
ken eventuell auch Veränderungen an den Strukturen des Gehirns,
z.B. an den synaptischen Verbindungen zwischen den Nervenzel-
len (3).

So wird man die Seeleninformation eines Zeitreisenden vielleicht
dadurch in den aus seiner genetischen Information erschaffenen
neuen Körper übertragen können, daß man die Makromoleküle,
welche für Persönlichkeit und Gedächtnis wichtig sind, mit einem
geeigneten Verfahren aus seinem tiefgekühlten alten Gehirn in das
neue Gehirn bringt. Das wäre auch dann möglich, wenn ein Teil
der Moleküle im Gehirn des Zeitreisenden zerstört ist, weil die
Moleküle zur Chiffrierung der Seeleninformation mehrfach vor-
handen sind (siehe Abschnitt 5.1.2).










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