3. Die nicht annehmbare
Gewißheit des Todes






Bevor in den späteren Kapiteln die Methoden zur Verwirklichung
der Zeitreise und zur Erreichung der Unsterblichkeit näher be-
sprochen werden, soll zunächst unsere gegenwärtige Haltung zum
Tod untersucht werden. Heute leben viele in den Tag hinein, als ob
es den Tod gar nicht gäbe. Der Gedanke, daß auch sie sterben wer-
den, scheint für sie keine unmittelbare Bedeutung zu haben. Es
sind immer "die anderen, die bei einem Autounfall ums Leben
kommen, von einem Herzanfall dahingerafft werden oder an der
Immunschwächekrankheit Aids zugrunde gehen.

Wie im folgenden erläutert wird, haben die Angst vor dem Tod
und die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit im Leben der Men-
schen jedoch schon immer eine große Rolle gespielt. Auch wenn
wir die Gewißheit des Todes heute häufig verdrängen, so beein-
flußt sie dennoch unser Denken und unser Verhalten. Sie ist auch
von entscheidender Bedeutung für die Probleme, die gegenwärtig
den Fortbestand der gesamten Menschheit bedrohen: für das ato-
mare Wettrüsten und für die zunehmende Umweltvergiftung.




3.1 Die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit




Die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit ist wahrscheinlich so alt
wie die Menschheit selbst. Verschiedene Funde weisen darauf hin,
daß die Menschen schon in der fernsten Urzeit auf ein Weiterleben
nach dem Tode gehofft haben. Bereits vor mehr als 60.000 Jahren
schmückten unsere direkten und indirekten Vorfahren ihre Toten
auf die verschiedenste Weise.(1)* Auch Grabbeigaben wie etwa
Bisonkeulen konnten nach Auffassung der Vorgeschichtsforscher


* Die eingeklammerten Zahlen im Text verweisen auf die Literaturhinweise 
und Anmerkungen am Schluß des Buches.


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nur für eine Reise ins Jenseits bestimmt sein. Schon in grauer Vor-
zeit wollten sich die Menschen also nicht damit abfinden, daß ihr
Leben mit dem Tod einfach zu Ende sein sollte. Das einzige,
worauf sie hoffen konnten, war ein Weiterleben im Jenseits.
In den vergangenen Jahrtausenden ist das Leben der Menschen
tiefgreifenden Wandlungen unterworfen gewesen. Sie hörten auf,
Jäger und Sammler zu sein, und gingen zu Ackerbau und Vieh-
zucht über. Später schufen sie Städte, Staaten und schließlich die
moderne Industriegesellschaft. Über alle Veränderungen hinweg
blieb aber ihre Hoffnung auf die Unsterblichkeit lebendig. Sie
scheint ein konstantes Phänomen der Geschichte zu sein.

Professor Plöger von der evangelisch-theologischen Fakultät der
Universität Bonn schreibt dazu: "Niemals, soweit wir es überse-
hen können, hat sich der Mensch mit der Endgültigkeit des Todes
abfinden können. Und wenn je und dann in literarischen Zeugnis-
sen ein solches Sich-Abfinden auch einmal laut werden kann,
dann ist es doch immer wieder geprägt von einer Resignation ge-
genüber eincm irreparabile fatum**. Geburt, Heirat im Sinne ei-
ner Weitergabe des Lebens und Tod sind und bleiben die entschei-
denden Stationen des menschlichen Lebens, aber die Hinnahme
der letzten Station ist nie mit der gleichen Selbstverständlichkeit
akzeptiert worden; denn auch in der Resignation und in der Skep-
sis ist die Sehnsucht lebendig. Diese Einstellung ist das Band, das
die Menschheit räumlich und zeitlich umschließt."(2) Die Religio-
nen aller Kulturen und Epochen - so verschieden ihre Gottesvor-
stellungen auch sein mögen - haben eines gemeinsam: Sie alle
glauben an ein Weiterleben der Seele nach dem Tode.
Schon in alter Zeit wollten sich jedoch manche Gruppen mit den
Jenseitsversprechungen der Religionen nicht begnügen. Sie such-
ten selbst einen Weg zur Unsterblichkeit. So verfolgten in China
die Anhänger des Taoismus ein umfassendes programm, das zum
Ziel hatte, das Leben zu verlängern und den ergebenen Jüngern
schließlich Unsterblichkeit zu verleihen. Dazu praktizierten sie
Atemübungen und bemühten sich, zu einem embryoähnlichen Zu-
stand zurückzugelangen. Sie aßen genügsam und versuchten, von
Wurzeln, Beeren und Früchten zu leben. Ein weiterer wichtiger
Bestandteil des Programms waren sexuelle Riten, die genau vorge-
schriebenen Techniken folgten. Chinesische Alchimisten suchten




** lateinisch: irreparabile fatum: unabwendbares Schicksal.


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nach Methoden, Zinnober in Gold umzuwandeln. Wenn das ge-
länge, sollten Eß- und Trinkgeräte mit dem edlen Metall behandelt
werden, was dem Benutzer Unsterblichkeit verleihen würde3.
Auch in Europa bemühten sich Alchimisten um die Unsterblich-
keit. Sie hofften auf Zaubertränke, die ihnen ewige Jugend schen-
ken sollten.

Ein anderes beliebtes Thema der vergangenen Jahrhunderte und
Jahrtausende war der Jungbrunnen, Wasser mit magischen Kräf-
ten, das dem ein ewiges Leben verhieß, der darin badete. Schon
die griechische Mythologie nannte eine Jugend spendende Zauber-
quelle, in der Hera, die Frau des Zeus, alljährlich badete. Der im
Mittelalter lebende Schriftsteller Jean de Mandeville machte die
Vorstellung vom Jungbrunnen populär, und in der von geistigen
Unruhen und Entdeckungen begleiteten Renaissance glaubten vie-
le, daß ein solcher Brunnen tatsächlich - irgendwo jenseits des
Ozeans - existiere. So verwundert es nicht, daß der spanische
Forscher Ponce de Leon Feuer und Flamme war, als er Gerüchte
über einen wunderbaren Jungbrunnen auf der Insel Bimini auf
den Bahamas hörte. 1512 verließ er Puerto Rico mit dem Schiff
und suchte mit einer Expedition die Insel ßimini und ihren Wun-
derbrunnen. Ponce de Leon fand den geheimnisvollen Brunnen
nicht, entdeckte aber den heutigen amerikanischen Bundesstaat
Florida (4).

Von der Sehnsucht der Menschen nach Unsterblichkeit handelt
auch das sumerische Gilgamesch-Epos, das vor mehr als
3000 Jahren im alten Zweistromland entstand. Es erzählt von Gil-
gamesch, dem legendären König von Uruk, der mit allen Schätzen
des Lebens begabt gewesen sein soll. Er war stark im Krieg und
hatte viele Feinde getötet. Obwohl er also den Tod kannte, dachte
er nicht darüber nach, daß auch sein Leben einmal enden würde.
Das änderte sich erst, als ihm sein vertrauter Freund Enkidu ge-
nommen wurde. Rasend vor Wut schrie er die Himmlischen an:
"Das könnt ihr mir nicht antun!" Er war verstört. Der unwider-
rufliche Abschied Enkidus nährte in ihm den Verdacht, daß es
auch für ihn selbst kein ewiges Leben geben werde, und die Angst
vor dem Tod begann ihn zu schütteln (5).

Von da an strebte er danach, Unsterblichkeit zu erringen. Er reiste
weit umher, suchte den Rat der weisesten Männer und verschmäh-
te kein Rezept, das ihm gegeben wurde. Schließlich wandte er sich
an die Götter. Diese ließen ihn jedoch wissen:


16


"Das Leben, das du suchst, wirst du nicht finden!
Als die Götter die Menschheit erschufen,
Teilten den Tod sie der Menschheit zu,
Nahmen das Leben für sich in die Hand."(6)


Diese Verse aus dem Gilgamesch-Epos, das von Historikern aus
jahrtausendealten Tontafeln entziffert wurde, zeigen die fatalisti-
sche Einstellung, die im Altertum vorherrschend war und sogar
heute noch weit verbreitet ist. Die Menschen glaubten, von Göt-
tern und magischen Kräften abhängig zu sein. Eine Auflehnung
gegen den Tod, aber auch gegen Krankheit, Armut, Ungerechtig-
keit und Unterdrückung, hielt man für sinnlos. All das galt als
gottgewolltes Schicksal und daher als unabänderlich.




3.2   Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften
      und die Zweifel an den Jenseitsvorstellun-
      gen der Religionen




Auch wenn die Suche nach Zaubertränken und Jungbrunnen dar-
auf hindeutet, daß einige Zweifler schon im Mittelalter den Jen-
seitsversprechungen der Religionen nicht genug vertrauten, glaub-
te damals die Mehrheit der Menschen, daß ihre Seele unsterblich
sei und sie nach ihrem Tod im Paradies weiterleben könnten. Das
änderte sich erst in den letzten 200 Jahren, als sich immer mehr
Menschen mit den Forschungsergebnissen der Naturwissenschaf-
ten befaßten und dabei feststellten, daß diese zu den Weltbildern
der Religionen, die früher für absolut unumstößlich gehalten wur-
den, im Widerspruch standen.

Die Kirchen lehrten im Mittelalter, daß die Erde der Mittelpunkt
der Welt sei und die Sonne und die Sterne sich an ihrer Himmels-
schale bewegten. Diese Weltsicht begründeten die Priester mit
Bibelzitaten wie dem folgenden: "Da stund die Sonne und der
Mond stille. . . Also stund die Sonne mitten am Himmel, und ver-
zog, unterzugehen, beinahe einen ganzen Tag."  Am Beginn der
Neuzeit aber zeigten Beobachtungen und Berechnungen des
Kopernikus und anderer Forscher, daß die Erde ein Planet ist, der
um die Sonne kreist. Außerdem entdeckte man, daß es im Weltall
noch unübersehbar viele andere Sonnen neben der unseren gibt.


                                                           17


Für solche Erkenntnisse bezahlte der italienische Philosoph Gior-
dano ßruno (1548-1600) mit dem Leben. Er hatte die Überzeu-
gung verbreitet, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Uni-
versums sei und daß außer ihr auch noch andere Welten existieren
müßten. Dafür wurde er auf Betreiben der katholischen Kirche
wegen Ketzerei eingekerkert. Als er sich auch nach siebenjähriger
Haft tapfer weigerte, seine Ansichten zu widerrufen, wurde er von
einem Richterkollegium der Inquisition in Rom zum Tode verur-
teilt und am 17. Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Viele weitere Widersprüche trennten das Weltbild der Kirchen von
den Forschungsergebnissen der Naturwissenschaften. Nach den
Chronologien des Mittelalters soll Gott den Menschen etwa
4000 Jahre vor Christi Geburt erschaffen haben. Ausgrabungen
zeigten jedoch, daß schon viel früher Menschen gelebt haben. Bio-
logen fanden auch eine Erklärung für die Entstehung des Men-
schen und des Lebens auf der Erde, als sie die Natur beobachteten
und den Aufbau der Lebewesen erforschten. Sie entdeckten, daß
alle Lebewesen aus Zellen aufgebaut sind. Einzeller (z. B. Bakte-
rien) aus nur einer, höhere Pflanzen und Tiere dagegen aus vielen
Millionen oder Milliarden. Der menschliche Körper besteht aus
etwa 75.000 Milliarden Zellen. Sie sind seine Grundbausteine.
Jedes Organ ist aus unzähligen Zellen zusammengesetzt.

Es gibt in unserem Körper und ebenso bei den Tieren und Pflan-
zen eine Vielzahl verschiedener Zelltypen. Jeder Zelltyp ist darauf
spezialisiert, eine besondere Aufgabe im Organismus wahrzuneh-
men. Beispielsweise transportieren die roten Blutzellen, auch rote
Blutkörperchen genannt, den in der Lunge eingeatmeten Sauer-
stoff zu seinen Verbrauchsorten im Gewebe. Im Blut des Men-
schen schwimmen ca. 25.000 Milliarden rote Blutkörperchen. Sie
sind wahrscheinlich der am häufigsten vorkommende Zelltyp un-
seres Körpers.

Lebende Zellen haben viele Gemeinsamkeiten, so verschieden ihre
Aufgaben und die Lebewesen, zu denen sie gehören, auch sein
mögen. Sie alle sind aus Nukleinsäuren und Proteinen aufgebaut,
komplexen organischen Molekülen, die in ihrer Struktur bei allen
Zellen ähnlich sind.

Die Nukleinsäuren sind der wichtigste Bestandteil der Chromoso-
men in den Zellkernen. Chromosomen verschlüsseln bei Pflanzen,
Tieren und Menschen die genetische Erbinformation, die alle ihre
erblichen Merkmale beschreibt und die von Generation zu Gene-


18


ration an die Nachkommen weitergegeben wird. Die Proteine bil-
den die Aufbaustoffe der Zellen. Außerdem kontrollieren sie als
Enzyme die chemischen Reaktionen, die für die Lebensvorgänge
in den Zellen notwendig sind.

Alle organischen Moleküle und die aus ihnen zusammengesetzten
lebenden Zellen sind aus Atomen aufgebaut, die auch in unbeleb-
ten Substanzen vorkommen. Die Lebewesen bestehen also aus
denselben atomaren Grundbausteinen wie die unbelebte Materie.
Heute ist es möglich, organische Stoffe im Labor aus unbelebten
Substanzen herzustellen. Entsprechende chemische Reaktionen
laufen auch in der Natur ab. Wissenschaftler nehmen an, daß vor
Milliarden von Jahren auf unserer Erde aus unbelebter Materie
komplexe organische. Moleküle und Molekülverbände hervorge-
gangen sind, aus denen sich dann die ersten lebenden Zellen bilde-
ten. Nach den Untersuchungen der Forscher bestanden in der
Frühzeit der Erde Bedingungen, die die Biogenese, d. h. die Ent-
stehung von Leben aus unbelebter Materie, erlaubten.

Die Biologen schließen aus den ähnlichen biochemischen Eigen-
schaften der Zellen der Tiere, der Pflanzen und der Menschen,
daß alle diese Lebewesen miteinander verwandt sind und sich im
Laufe von Jahrmilliarden aus den ersten lebenden Zellen der Ur-
zeit entwickelt haben. Wie das geschehen konnte, erklärt die Evo-
lutionstheorie, die von Darwin begründet wurde und die sich auf
sehr viele Beobachtungen und Beweise stützt. Nach ihr entstanden
höhere Lebensformen aufgrund von zufälligen Mutationen (Ver-
änderungen) im Erbgut. Da die Tiere und die Pflanzen im allge-
meinen weitaus mehr Nachkommen erzeugen, als später überle-
ben können, pflanzen sich nur diejenigen Individuen fort, die am
besten an ihre Umwelt angepaßt sind und entsprechend gute Erb-
eigenschaften haben. Diese "natürliche Auslese" bewirkt, daß
Veränderungen im Erbgut, die für die Lebensfähigkeit des Tieres
oder der Pflanze günstig sind, an die kommenden Generationen
weitergegeben werden. Die Veränderungen sind von einer Genera-
tion zur anderen sehr gering, im Laufe von Jahrmillionen entste-
hen dadurch jedoch neue Tier- und Pflanzenarten. So brachte die
Natur selbst die heutige Vielfalt des Lebens hervor. Diesen Vor-
gang bezeichnet man als natürliche Evolution.

Nach Darstellung der Evolutionstheorie hatte der Mensch vor vie-
len Millionen Jahren dieselben affenähnlichen Vorfahren wie die
heutigen Menschenaffen. Er ist also mit den Gorillas, Schimpan-


                                                         19


sen und Orang-Utans verwandt. Diese Abstammungslehre wurde
von der Kirche aufs heftigste abgelehnt, weil sie ihrer Auffassung
nach der christlichen Überlieferung widersprach, die den Men-
schen als Schöpfung nach dem Ebenbild Gottes sah. Demgemäß
reagierten die Vertreter der Kirche besonders aufgeregt und heftig.
1860 kam es bei einer wissenschaftlichen Diskussion über die Evo-
lutionstheorie zwischen einem bedeutenden Freund und Anhänger
Darwins, Thomas Huxley, und dem Bischof Samuel Wilberforce
zu einem heftigen Wortwechsel. Huxley verteidigte die Theorie
Darwins und wies darauf hin, daß Affen und Menschen nahe Ver-
wandte sein müßten. Der Bischof versuchte, Huxley Iächerlich zu
machen: "Was Sie selbst betrifft, Professor Huxley, gestatten Sie
mir die Frage: Stammen Sie väterlicher- oder mütterlicherseits
vom Affen ab?" Huxley konterte scharf: "Wenn schon diese
Frage an mich gerichtet wird, ob ich Iieber einen elenden Affen
zum Großvater haben wolle oder einen von Natur aus hochbegab-
ten Mann von großer Bedeutung und großem Einfluß, der aber
diese Fähigkeit und diesen Einfluß nur dazu benutzt, Lächerlich-
keiten in eine ernste Diskussion zu tragen, dann würde ich ohne
Zögern meine Vorliebe für den Affen bekräftigen!"

Im Lauf der Zeit fand man viele Beweise für die Evolutionstheo-
rie. So wurden Millionen Jahre alte Fossilien entdeckt, die zeigen,
daß die von Huxley vermuteten gemeinsamen Vorfahren der Men-
schen und der Menschenaffen tatsächlich gelebt haben. Unsere
Verwandtschaft zu den Affen wurde auch durch Untersuchungen
an Chromosomen, Schädelformen und Gehirnstrukturen bestä-
tigt.

Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften stellten zudem den reli-
giösen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele in Frage. Es gibt
keinen nachprüfbaren Beweis dafür, daß die Seele des Menschen
von seinem Körper unabhängig ist und nach seinem Tod in einem
Jenseits weiterlebt. Hingegen gibt es viele Forschungsergebnisse,
die darauf hinweisen, daß jedem psychischen Vorgang ein mate-
rieller Prozess im Gehirn entspricht. Dafür sprechen z. B. Mes-
sungen von Hirnströmen, die Auskunft über die elektrische Akti-
vität des Gehirns geben. Es zeigte sich, daß bei verschiedenen For-
men geistiger Aktivität auch die Hirnströme unterschiedlich sind.
So werden bei einem Menschen, wenn er sich entspannt, deutlich
andere Hirnströme gemessen, als wenn er angestrengt geistig
arbeitet.


20


Wie wohl jeder weiß, bewirken Drogen wie etwa Mescalin oder
LSD, die das Gehirn auf chemische Weise beeinflussen, Verände-
rungen im Denken und in den Gefühlen und rufen z. B. Halluzina-
tionen hervor. Somit sind die Gedanken, die Vorstellungen, die
Gefühle und alle anderen psychischen Vorgänge anscheinend ab-
hängig von chemischen und elektrischen Prozessen im Gehirn. Es
ist also zu vermuten, daß der menschliche Geist, das Bewußtsein
und die Seele an das Gehirn gebunden sind.

Diese Annahme wird auch durch Beobachtungen an Patienten mit
schweren Hirnverletzungen gestützt. Bei diesen Kranken werden
eine allgemeine geistig-seelische Verkümmerung oder spezielle
Defekte wie die Unfähigkeit zur sprachlichen Begriffsbildung
oder zum räumlichen Denken festgestellt. Welche Schäden auftre-
ten, ist abhängig von der zerstörten Hirnregion.
Der Göttinger Neurologieprofessor Paul Glees schreibt, daß "un-
ser Geistesleben einzig die Organfunktion des Gehirnes ist." (2) Von
den meisten Hirnforschern wird diese Hypothese unterstützt. Es
gibt keine andere Erklärung für den menschlichen Verstand. Die
Gegenargumente wurzeln in philosophisch-religiösen Vorstellun-
gen, die eine nur organgebundene Menschlichkeit als unwürdig
empfinden(3). Es wird behauptet, eine Ansammlung von IIerven-
zellen könne nicht Geist sein.

Unser Gehirn enthält jedoch etwa 100 Milliarden Nervenzellen,
die Neuronen(4). Jede von ihnen besitzt ein eigenes Leben, erfüllt
komplexe chemische und elektrische Funktionen und ist mit vielen
anderen Nervenzellen zur Übertragung von Informationen ver-
bunden. Ein so kompliziertes neuronales Netzwerk ist durchaus in
der Lage, etwas so Wunderbares wie den menschlichen Geist her-
vorzubringen. Aus dieser Betrachtung ergibt sich außerdem, daß
unser Zentralnervensystem nicht mit primitiven Denkmaschinen
wie den heutigen Computern vergleichbar ist, die nur über wenige
Rechenwerke verfügen.

Diese Betrachtungen wecken Zweifel an der von den Religionen
versprochenen Unsterblichkeit der Seele. Der Philosoph Ludwig
Büchner drückte das schon 1855 in seinem Buch "Kraft und
Stoff" sehr drastisch aus: "In der Tat lehrt uns denn auch die all-
täglichste Beobachtung und Erfahrung, daß die Seele eines gestor-
benen Individuums mit dem Tode desselben zu erscheinen auf-
hört; und keine Erscheinung hat es jemals gegeben, welche uns
glauben oder annehmen ließe, es existiere diese Seele in irgendei-


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ner Weise oder Gestalt weiter. Geister oder Geistererscheinungen
haben nur ungebildete, kranke oder abergläubische Leute beob-
achtet. So oft man solchen angeblichen Erscheinungen ernstlich
auf den Leib ging, zerrannen sie ins Nichts."(5)

Nach Auffassung des Christentums, des Islams und ds Juden-
tums wurde alles, was ist, von einem einzigen allmächtigen, ge-
rechten und guten Gott geschaffen. Manche fragen sich: Warum
läßt dieser Gott grausame Folterungen und blutige Kriege gesche-
hen? Warum duldet er Morde an unschuldigen Kindern? Weshalb
verhindert der allmächtige Gott nicht, daß sich verschiedene Reli-
gionsgemeinschaften in seinem Namen in blutigen Auseinander-
setzungen bekämpfen? Wie kann ein weiser und gütiger Gott es
zulassen, daß die Reichen immer reicher und die Armen immer är-
mer werden, obwohl doch alle seine Kinder sind? Weshalb müssen
die Unschuldigen für die Sünden der Bösen leiden?

Es gibt auch Menschen, die zwar an einen Gott glauben, aber
nicht an die Vorstellungen der Religionen. Eine solche PIaltung
ist uns z. B. von dem niederländischen Philosophen Benedict de
Spinoza und von dem deutsch-amerikanischen Physiker Albert
Einstein überliefert. Einstein war einer der größten Wissenschaft-
ler unseres Jahrhunderts. Seine Relativitätstheorie ist für die mo-
derne Physik von revolutionärer Bedeutung.

1929 brachte das jüdische Magazin Reflex einen Leitartikel, in
dem Einstein beschuldigt wurde, "reine Blasphemie" geäußert zu
haben. Ein Rabbiner hatte ihm in einem Telegramm mit bezahlter
Rückantwort die Frage gestellt: "Glauben Sie an Gott?" Einsteins
telegrafische Erwiderung: "Ich glaube an Spinozas Gott, der sich
in der Harmonie alles Bestehenden offenbart, aber nicht an einen
Gott, der sich mit dem Schicksal und den Taten von Menschen be-
schäftigt." Die Rabbiner wiesen darauf hin, daß Spinoza im Jahre
1656 exkommuniziert worden sei, weil er sich geweigert hatte, an
Schutzengel und an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, und
erklärten: "Spinoza wurde aus dem sehr guten Grund exkommu-
niziert, daß er die Personalität Gottes leugnete und versuchte, ihn
an seine eigenen Gesetze zu ketten. Spinozas Gott ist nicht frei,
und wenn er wünschte, das Schicksal des Menschen zu lenken,
könnte er es unmöglich tun, weil er an die unveränderlichen Na-
turgesetze gebunden ist. Dies ist in den Augen des Frommen
schlimmer als reiner Atheismus. Es ist reine Blasphemie." Auch
einige Mitglieder der katholischen Kirche waren über Einsteins


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Äußerung entsetzt. Kardinal O'Connell in Boston erklärte, daß
die beiden Relativitätstheorien Einsteins "verworrene Spekulatio-
nen" seien, "die universalen Zweifel an Gott und seiner Schöp-
fung hervorrufen". In einem Leitartikel des "Osservatore
Romano",· der die Ansichten des Vatikans wiedergibt, stand,
O'Connell habe recht, wenn er Einsteins Theorien brandmarke,
weil sie "den Glauben an Gott vom menschlichen Leben trenn-
tcn. Er nannte Einsteins Werk "echten Atheismus, als kosmi-
scher Pantheismus getarnt" (6).

Damit hat er allerdings Einsteins Theorien nicht widerlegt. Für sie
fand man später bei astronomischen Beobachtungen und bei Ex-
perimenten der Kernphysik zahlreiche Beweise. Man könnte nun
einwenden, daß die Relativitätstheorie, die Evolutionstheorie und
die Vorstellung, die Seele sei an das Gehirn gebunden, nur Hypo-
thesen seien. Das Weltbild der Naturwissenschaften stützt sich
aber auf überprüfbare Beweise und auf wohlbegründete Annah-
men. Z. B. sprechen für die Evolutionstheorie sehr viele Fossilien-
funde. Da sich für diese keine andere vernünftige Erklärung fin-
den ließ, erscheint die Annahme berechtigt, daß die Evolutions-
theorie zutrifft.

Die meisten Naturwissenschaftler haben es niemals als ihre Auf-
gabe betrachtet, der Kirche zu widersprechen. Durch die intensive
Beschäftigung mit den Gesetzen der Physik, Biologie und Chemie
jcdoch ist für viele Menschen offensichtlich geworden, daß Wei-
terleben nach dem Tode und die Existenz Gottes oder anderer
übernatürlicher Kräfte naturwissenschaftlich nicht zu beweisen
sind. Das betrifft nicht nur das Christentum, sondern auch alle
anderen Religionen, da diese ebenfalls an eine vom Körper unab-
hängige Seele und an göttliche Wesen glauben.

Obwohl es insbesondere in den islamischen Staaten starke religiö-
se Erneuerungsbewegungen gibt, ist heute der Atheismus weit ver-
breitet. Das zeigt sich in vielen Ländern z. B: an der deutlich ge-
sunkenen Zahl der Kirchenbesucher. Nach Umfragen sollen 50 %
der Bundesbürger nicht mehr an ein Weiterleben im Jenseits glau-
ben. Nur noch 33 % wissen mit dem Glaubenssatz "Auferstanden
am dritten Tage von den Toten" etwas anzufangen (8). Für die ande-
ren ist Jesus Christus nur noch Religionsstifter und Vorbild der
Mitmenschlichkeit und nicht mehr der Sohn Gottes, der drei Tage
nach der Kreuzigung aus dem Grabe wiederauferstand und zum
Himmel fuhr. China, die Sowjetunion und viele kleinere Staaten


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in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika werden von kommu-
nistischen Parteien regiert, die den Atheismus als Teil ihrer Ideolo-
gie betrachten. Noch größer als die Zahl der erklärten Atheisten
dürfte die Zahl der Menschen sein, die an den Anschauungen der
Religionen zweifeln oder denen die Religionen gleichgültig sind.
Somit bietet vielen beim Gedanken an den Tod die Hoffnung auf
ein Weiterleben im Jenseits keinen Trost mehr.

Man muß allerdings nicht unbedingt Atheist sein, wenn man ver-
suchen möchte, ein unbegrenztes Leben im Diesseits zu erreichen.
Wenn,- wie die Priester sagen, ein allmächtiger Gott die Welt und
uns erschaffen hat, dann muß er sich ja etwas dabei gedacht ha-
ben, als er uns einen starken Lebenswillen und die Sehnsucht nach
der Unsterblichkeit mitgab und uns gleichzeitig keine eindeutigcn
ßeweise für die Eistenz eines Jenseits überließ. Wahrschein?ich
hat er also gewollt, daß wir unsere Wissenschaften weiterentwik-
keln und einen Weg zur Unsterblichkeit suchen, sobald wir dazu
im Rahmen der von ihm festgelegten Naturgesetze eine Möglich-
keit sehen.

Heute sehen viele Kirchenführer zwischen der modernen Natur-
wissenschaft und der Religion keinen Widerspruch mehr. So
schreibt Dr. G. Ernest Thomas, Direktor für Fragen des geistli-
chen Lebens beim Generalrat der amerikanischen Methodisten-
kirche: "Die Religion bedarf der Wissenschaft. . . Durch jcde neue
Entdeckung, die der Wissenschaftler auf dem Gebiet der VVirk-
lichkeit macht, werden die Absichten Gottes dem Bewußtsein
näher gebracht. . . Da nach Ansicht der Religion Gott ebensosehr
an der Verwirklichung der außerordentlichen Möglichkeiten des
Menschen wie am ordnungsgemäßen Lauf der Pla neten und Ster-
ne interessiert ist, ehrt die Religion Pasteur, Lister, Koch, Einstcin
und andere Wissenschaftler. Sie ehrt im Wissenschaftler einen
Menschen, der an der Erfüllung von Gottes Absichten für seine
Welt beteiligt ist. . . Ich erkenne an, daß die Wissenschaft den
Schlüssel für ein viel reicheres Leben als es der Mensch jemals
kannte, in der Hand hält."(9)

Wie in den späteren Kapiteln erläutert wird, könnte auch die Ver-
wirklichung des Traumes von der Unsterblichkeit zu den außeror-
dentlichen Möglichkeiten des Menschen gehören. Das wäre also
mit der Religion nicht unvereinbar.






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3.3 Die Verdrängung des Todes


Heute halten sich allerdings viele an das, was der französische
Physiker und Philosoph Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert
spöttisch bemerkt hat: "Da die Menschen unfähig waren, Tod,
Elend, Ungewißheit zu überwinden, sind sie, um glücklich zu sein,
übereingekommen, nicht daran zu denken."(1)  Die folgenden Ant-
worten auf Fragen eines Interviewers über die Einstellung zum
Tode geben Haltungen wieder, die für unsere Zeit ziemlich typisch
sind:
"Ich denke über das Sterben deshalb nicht nach, weil ich nicht das
Gefühl habe, schon sehr nahe daran zu sein."
"Warum sollte ich denn darüber nachdenken? Nur rührselige
Menschen tun das. Ich habe mein Leben zu leben, und es läßt mir
gar keine Zeit, mich mit diesem Thema zu befassen."
"Ich mag nicht darüber sprechen, ich sehe gar nicht ein, warum.
Oder gibt es einen Grund dafür? Das liegt ja alles noch so fern, zu-
mindest hoffe ich das. Zwar weiß man nie ganz genau, aber ich
habe das sichere Gefühl, ich meine, ich weiß, daß ich noch Zeit
habe. Ich bin ja schließlich noch jung. Sie verstehen mich doch,
nicht wahr?"(2)

Daß alle Menschen sterblich sind, wird aus unserem Alltag ver-
drängt, beiseite geschoben, aus dem Bewußtsein eliminiert (3). Der
Tod ist zum Objekt spezialisierter Institutionen gemacht worden.
Er wird in Krankenhäusern und Altersheimen versteckt und von
Beerdigungsinstituten und Lebensversicherungen elitzschnell, ra-
tionell und schmerzlos verarbeitet.

Für die Verwaltungen, die Industriebetriebe und für die gesamte
Gesellschaft ist der Tod eines einzelnen vollkommen neben-
sächlich. Alle Organisationen achten darauf, daß jeder Funktions-
träger ähnlich wie ein Rädchen in einer Maschine rasch und ganz
unproblematisch ausgewechselt werden kann.

Wenn seine Zeit abgelaufen ist, verschwindet der Mensch fast
spurlos. Nicht einmal sein Grab wird in unserer Massengesell-
schaft für längere Zeit erhalten. Im allgemeinen wird der Grab-
stein mit seinem Namen nach zwei bis drei Jahrzehnten entfernt,
weil der Platz auf dem Friedhof für einen anderen benötigt wird.
Bei einem Todesfall soll sich auch die Trauer der Freunde und An-
gehörigen in Grenzen halten. Man erwartet von uns, daß wir uns
immer beherrscht geben, daß wir uns "funktionstüchtig" erhal-
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ten, auch wenn wir einen geliebten Menschen verloren haben.
Man erwartet auch, daß wir selbst möglichst lautlos und ohne
Aufsehen und Last für andere abtreten(4).
Der französische Historiker Philippe Aries bemerkt zur Situation
der Trauernden in unserer Zeit: "Wichtig ist vor allem, daß die
Gesellschaft, die Nachbarn, Freunde, Kollegen und Kinder so we-
nig wie möglich wahrnehmen, daß der Tod eingetreten ist. Wenn
auch an einigen Formalitäten festgehalten wird, wenn auch noch
eine Zeremonie auf das Hinscheiden aufmerksam macht, so müs-
sen sie doch diskret bleiben und jeden Anlaß zu einer tieferen Ge-
mütsregung ausschließen."(5)
    
Aries stellt weiters fest, daß der "Tod zum Tabu geworden sei
und im 20. Jahrhundert die "Sexualität als Hauptverbotszone ab-
gelöst" habe. "Früher erklärte man den Kindern, daß sie in einem
Kohlkopf zur Welt kämen, aber man ließ sie bei der. . .
Abschiedsszene am Lager des Sterbenden zugegen sein. Heute
werden sie im zartesten Alter in die Physiologie der Liebe einge-
weiht, aber wenn sie ihren Großvater nicht mehr zu Gesicht
bekommen und sich darüber wundern, sagt man ihnen, daß er in
einem schönen Garten mit lauter ßlumen ruht."(6)

Aries meint, sogar von den Sterbenden werde erwartet, daß sie ih-
rer Umgebung helfen, an der Verdrängung des Todes festzuhalten:
"Es ist Sache der Kranken, bei Ärzten und Krankenschwestern nie
die unerträgliche Gefühlsbelastung durch ihren nahen Tod auf-
kommen zu lassen. Sie werden nach Maßgabe der Bereitschaft
eingeschätzt, mit der sie der. . . Umgebung. . . die Erinnerung dar-
an ersparen, daß sie sterben werden. So kann die Rolle des Kran-
ken nur negativ sein: die des Sterbenden, der den Anschein er-
weckt, er stürbe nicht."

Ist es wirklich gut, den Tod, der letztlich für unser Leben doch von
zentraler Bedeutung ist, einfach aus dem Bewußtsein zu verdrän-
gen? Heute leiden nicht wenige Menschen an seelischen Störun-
gen, die sich etwa in unbestimmten Ängsten, inneren Spannungen,
Neurosen und psychosomatischen ßeschwerden äußern. Viele
flüchten auch in den Mißbrauch von Medikamenten, Alkohol
oder Drogen.

Professor Meyer, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Univer-
sität Göttingen, vermutet, daß verdrängte Todesängste häufig die
Ursache von psychischen Problemen sind, auch wenn deren Sym-
ptome den ursprünglichen Charakter der Bedrohung meistens


26


kaum mehr verraten (8). Diese Annahme erscheint plausibel.
Schließlich begleitet uns die Angst vor dem Ende unser ganzes Le-
ben lang. Wir können nichts gegen sie unternehmen, weil man
dem Tod anscheinend nicht entgehen kann. So unterdrücken viele
Menschen jeden Gedanken an das Sterben. Ins Unbewußte ver-
drängte Ängste und Konflikte verschwinden jedoch nicht, son-
dern führen in vielen Fällen zu seelischen Krankheiten.
Sogar Schlafstörungen können mit dem Todesproblem zusam-
menhängen. Professor Meyer schreibt dazu: "So scheinen solche
Patienten gelegentlich von der Frage beunruhigt und lassen dies
als Widerstand gegen das Einschlafen erkennen, ob sie wirklich
ein Erwachen und damit eine Wiederkehr des Bewußtseins noch
erleben werden oder ob mit ihrem Einschlafen möglicherweise be-
reits das Nichtwiedererwachen besiegelt ist."(9) Auch wenn wir im
allgemeinen nicht befürchten müssen, schon in der nächsten
Nacht zu sterben, so wissen wir doch, daß uns der Tod früher oder
später ereilen wird. Bisher konnte niemand damit rechnen, länger
als einige Jahrzehnte zu leben. Die durchschnittliche Lebenser-
wartung liegt unter 80 Jahren. So verbannt einen der Tod nach ei-
ner kurzen Phase des Lebens in eine ewige Dunkelheit. Der Spa-
nier Unamuno meint in seiner Schrift "Der tragische Sinn des Le-
bens" : "Wenn Bewußtsein nicht mehr bedeutet als einen Licht-
blick zwischen zwei Ewigkeiten der Dunkelheit, dann gibt es
nichts Elenderes als die menschliche Existenz. . ."(10)

Professor Meyer bemerkt: "Vergegenwärtigen wir uns. . ., was
dem Menschen angesichts des Todes und lebenslang im Bewußt-
sein seiner Sterblichkeit ,zugemutet` wird, dann stellt sich unaus-
weichlich die Frage, wie der Mensch überhaupt damit leben kann,
wie er angesichts des Todes zu genießen, zu lieben und zu arbeiten
vermag. . . Gibt es, um die Fragc noch zuzuspitzen, überhaupt
eine adäquate ,normale` Einstellung zum Tode? Ist der Mensch
wirklich in der Lage, seine Sterblichkeit zu akzeptieren?" "
Die heutige Verdrängung des Todes zeigt wohl, daß die meisten
Menschen nicht bereit sind, ihre Sterblichkeit zu akzeptieren.
Wenn sie dazu imstande wären, könnten sie dem Tod nämlich
ruhig entgegensehen und brauchten nicht jeden Gedanken an das
Ende zu unterdrücken.

Man hört allerdings manchmal die Meinung, es gäbe gar kein To-
desproblem, da die meisten Menschen in höherem Alter einen so-
genannten natürlichen Tod sterben. Beispielsweise kann man in ei-


                                                          27


ner theologischen Publikation aus dem Jahre 1971 lesen: "Man
stirbt heute in aller Regel alt und lebenssatt. . . Ich habe in den
letzten Jahren fast ausschließlich alte Leute beerdigt. Tod tritt
heute meist ein, wenn sich der Lebensbogen natürlich zur Erde zu-
rückneigt. Das Leid und die Trauer bleiben in vorgesehenem Rah-
men." (12)

Diese Sätze täuschen jedoch über die Tatsache hinweg, daß es für
den größten Teil der Menschheit den "natürlichen" Alterstod
noch nicht gibt. Man denke nur an Länder, in denen Menschen in
Armut leben, wo es weder genügend zu essen noch ausreichende
medizinische Versorgung gibt. Ein Großteil der Bevölkerung
stirbt dort lange vor dem fünfzigsten Lebensj ahr an den Folgen
der Unterernährung oder an unzureichend behandelten Krankhei-
ten. Nicht zu vergessen sind auch die Opfer von Kriegen oder Ge-
walttaten. In der scheinbar friedlichen Epoche seit dem Ende des
Zweiten Weltkrieges sollen mehr als 60 Millionen Menschen in
Kriegen und Bürgerkriegen umgekommen sein. Die meisten davon
waren unbeteiligte Zivilisten. Auch in den reichen Industrie-
staaten gibt es für niemanden eine Garantie, gesund das Renten-
alter zu erreichen. Viele sterben vorher an Krebs, Herzinfarkten,
Schlaganfällen, Virusinfektionen wie AIDS und anderen Krank-
heiten. Tausende kommen bei Verkehrsunfällen ums Leben.
Der Tod ist jedoch auch für die Älteren keineswegs unproblema-
tisch. Sie können im allgemeinen die Gedanken nicht mehr ver-
drängen, die den Schriftsteller Alan Harrington schon in j üngeren
Jahren bewegten: ". . . die Trauer, die Männer und Frauen heute
erfüllt, wächst. . . aus der Gewißheit, daß Altern und körperlicher
Verfall unweigerlich zum Tod führen. Es ist jene Angst vor dem
Verlust unserer Kraft, die Angst, allein oder in den Händen gleich-
gültiger Krankenschwestern gelassen zu werden und das feste Wis-
sen, daß der Augenblick kommen muß, in dem wir die Menschen,
die wir lieben, nie mehr sehen werden und alles um uns dunkel
wird. . ."(13)

Professor Meyer schreibt: "Das Verhältnis auch alter Menschen
zum Tode ist. . . noch in erheblichem Maße durch Furcht vor dem
Sterben und vor dem Alleinsterben bestimmt*. . . Es ist. . . zu ver-


*Für diese These führt Professor Meyer in seinem ßuch "Tod und Neurose zahl-
 reiche Belege an, unter anderem die Ergebnisse sozialempirischer Studien, in de-
 nen die Einstellung zum Tod in Abhängigkeit vom Lebensalter, von der Religiosi-
 tät und anderen persönlichen Faktoren erfaßt wird.


28


muten, daß der ,natürliche` Tod ein neuer euphemistischer Aus-
druck ist, der letztlich jenen modernen Tendenzen entspricht,
die. . . der Konfrontation mit dem Todesproblem ausweichen.
Wenn die Erreichung des ,natürlichen` Todes als wichtiges gesell-
schaftspolitisches Ziel. .. proklamiert wird, so offenbart sich dar-
in im Grunde nur das Bemühen, den Tod in das Alter abzuschie-
ben und für das Alter zu bagatellisieren."(14)

Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, stellte kurz
nach dem Ersten Weltkrieg fest, es wäre "besser, dem Tod den
Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen,
der ihm gebührt."(15) Heute drängt sich die Frage auf, inwieweit die
Ereignisse der beiden Weltkriege, die Massenvernichtungslager,
die Anwendung und Fortentwicklung nuklearer Waffen auf unser
Verhältnis zu Sterben und Tod eingewirkt haben müssen und noch
fortwirken. "Dabei liegt auf den ersten Blick der Gedanke nahe,
daß die katastrophalen Ereignisse dieses Jahrhunderts zu den Ur-
sachen der Verdrängung des Todes gehören, daß man nur durch
Totschweigen die ständige Konfrontation mit dem großen Sterben
zu ertragen vermochte. Dies um so mehr, als zur selben Zeit, wie
schon beim Vergleich zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg
deutlich wird, die Glorifizierung des Sterbens als Heldentod weit-
gehend aufgehört hat. Man kann die Beziehung zwischen Todes-
verdrängung und den großen Katastrophen dieses Jahrhunderts
aber auch umgekehrt sehen: Wurden nicht mit der Verdrängung
des Todes gerade jene Kräfte gelähmt, die sich den Massenver-
nichtungen hätten entgegenstellen können?"(16)

Es ist durchaus möglich, daß die Verdrängung des Todes viele
Menschen hindert, Kriege und Gewalttaten, wie sie täglich in den
Fernsehnachrichten gezeigt werden, als etwas wahrzunehmen, was
auch sie selbst betreffen könnte.




3.4 Die Thanatologie




Die Verdrängung des Todes ist inzwischen von vielen Seiten als
schädlich erkannt worden. Heute stehen in den meisten Ausbil-
dungsstätten für Ärzte und Krankenschwestern Vorlesungen über
"Tod und Sterben" auf dem Lehrplan. Es gibt auch eine große
Zahl von Publikationen zur Thanatologie (griechisch: thanatos =


                                                          29


Tod), einer Richtung, deren Vertreter fordern, sich des Todes be-
wußt zu werden und ihn als unausweichliches Schicksal anzuneh-
men.

Die bekannte Ärztin und Sterbeforscherin Frau Dr. Kübler-Ross
schreibt in ihrem ßuch "Was können wir noch tun? Antworten
auf Fragen nach Sterben und Tod": "Es gibt viele Möglichkeiten,                                                            ,
uns mit unserem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Zuerst müssen
wir uns natürlich täglich bewußt sein, daß unser Leben nicht ewig
währt. Wir können Literatur und Poesie lesen oder über den Tod
nachsinnen, der uns auf vielerlei Weise in Musik, Drama, Kunst
nahegebracht wird. Wir können Pflegeheime, Anstalten für Gei-
steskranke und Krankenhäuser besuchen, um uns daran zu erin-
nern, daß unser Leben nicht nur ein beständiger Frühling ist.
. . . Die Religion sieht den Tod in einem viel breiteren Zusammen-
hang, und wer religiös bestimmt ist, kann helfen, den Sinn des
Lebens und damit den Sinn des Todes zu überdenken. . . Die Er-
kenntnis unserer eigenen Endlichkeit sollte jeder von uns anstre-
ben, lange bevor wir krank werden und vielleicht einen unheilba-
ren Herzschaden erleiden. Wenn wir schon in der Jugend lernen
können, unsere Endlichkeit hinzunehmen, sind wir auf den Tod
vorbereitet, wenn er eintritt."
 
Frau Dr. Kübler-Ross hat allerdings überwiegend religiöse Patien-
ten behandelt. Es ist fraglich, ob ihre Aussagen aLlch Menschen
helfen können, die nicht an ein Weiterleben im Jenseits glauben
und im Tod nur das unwiderrufliche Ende ihrer Eistenz sehen.
Oft heißt es, Personen mit einem starken Charakter fänden sich
leichter mit dem Tode ab als andere. Nach den Erkenntnissen von
Dr. C. Knight Aldrich, dem Präsidenten der Abteilung Psychiatrie
an der Universität Chikago, ist dies jedoch nicht der Fall. Er
schreibt: "Auf Grund meiner klinischen und außerklinischen Er-
fährungen kann ich im übrigen sagen, daß es einer starken, n sich
gefestigten Persönlichkeit sehr schwer fällt, mit Gleichmut an den
eigenen Tod zu denken. Die Stärke der Persönlichkeit verhilft
einem Patienten weniger dazu, angesichts des Todes Depressionen
zu vermeiden als vielmehr dazu, diese Depressionen vor anderen
zu verbergen. Anderseits haben viele Patienten, die den Tod mit
wirklichem Gleichmut zu erwarten scheinen, Depressionen. Sie
leiten den tödlichen Ausgang ihrer Erkrankung ein, oder sie sind
ein Zeichen dafür, daß sie die Lust am Leben infolge Schmerz
oder Entkräftung verloren haben. Ihr vermeintlicher Gleichmut


30
                                                        


verrät nur, daß sie das Leben aufgegeben haben und den Tod will-
kommen heißen. Dem Tod sieht man leichter entgegen, wenn man
kaum noch etwas vom Leben erwartet, als wenn man viel zu ver-
lieren hat."(3)
Der letzte Satz von Dr. Aldrich erklärt, warum viele Menschen
heute im Alter, bei schwerer Krankheit oder in einer ausweglosen
Situation den Tod herbeisehnen. Sie haben keine Hoffnung mehr,
daß sich in ihrem Leben noch irgendeine ßesserung ergibt. Des-
halb ziehen sie den Tod einem Dasein vor, das ohne Freude ist.
Wenn sie eine Möglichkeit hätten, wieder gesund zu werden und in
einer besseren Welt weiterzuleben, wären sie wahrscheinlich nicht
bereit zu sterben.


3.5 Das Streben nach unsterblichem Ruhm


Es gab schon immer Menschen, die es nicht hinnehmen wollten,                                                             ,
nach einer kurzen Lebensspanne zu sterben und bald danach ver-
gessen zu werden. Da sie ihren Tod nicht verhindern konnten,                                                             ,
wollten sie wenigstens dafür sorgen, daß die Erinnerung an sie
auch in den kommenden Jahrhunderten erhalten blieb. So dachte
z. B. der Grieche Herostratos, dr vor mehr als 2000 Jahren den
Artemis-Tempel, eines der sieben Weltwunder seiner Zeit, durch
Brandstiftung zerstörte. Er beging dieses spektakuläre Verbrechen
nur, um unsterblichen Ruhm zu erreichen. Dieses Ziel hat er nicht
verfehlt. Noch heute sind Herostratos und seine Tat überall auf
der Welt bekannt.

Ähnlich wie Herostratos denken wahrscheinlich auch in unserer
Zeit viele Attentäter und Terroristen. Das geben sie aber im allge-
meinen nicht zu, weil die Öffentlichkeit sie sonst als gewissenlose
Verbrecher ansehen würde. Meist schieben sie ein politisches Ziel
vor, das allerdings häufig in keinem sinnvollen Zusammenhang zu
ihren Gewalttaten steht und daher eher darauf hinweist, daß sie
bewußt od er unbewußt heimliche Nachahmer des Herostratos
sind.

Das Streben nach Ruhm ist auch für Forscher häufig das wichtig-
ste Motiv ihres Handelns gewesen. Bei den Expeditionen Amund-
sens und Scotts zum Südpol kam es beiden vor allem darauf an,                                                           ,
als erster das Ziel zu erreichen. Die Sammlung wisenschaftlicher
Erkenntnisse war demgegenüber zweitrangig. Scott hätte seinen


                                                          31


Tod und den seiner Männer wahrscheinlich verhindern können,
wenn er sein Unternehmen rechtzeitig abgebrochen hätte. Er be-
merkte, schon lange bevor er den Pol erreichte, daß seine Ponys
als Zugtiere für die Schlitten mit seiner Ausrüstung nicht geeignet
waren und ein weiteres Vorgehen deshalb sehr gefährlich war. Die
Hoffnung, als erster Mensch am Südpol in die Geschichte einzuge-
hen, ließ ihn jedoch alle Vorsicht vergessen. So rückte er zusam-
men mit einigen Begleitern weiter vor. Es gelang ihnen zwar, trotz
aller Schwierigkeiten den Pol zu erreichen. Für den Rückweg hat-
ten sie aber nicht mehr genug Kraft, weil sie nun die Schlitten mit
den Nahrungsmitteln und Ausrüstungsgegenständen selbst ziehen
mußten. Sie starben schließlich in der Einsamkeit der Antarktis.
Ruhm dürfte wohl auch das Ziel Alexanders des Großen, Cäsars,
Napoleons und anderer Heerführer und Herrscher gewesen sein.
Sie werden noch heute bewundert. Sie haben bewiesen, daß man
unsterblichen Ruhm erreichen kann, wenn man Kriege führt, in
denen Tausende oder Millionen von Menschen getötet und ganze
Kulturen vernichtet werden.

Im allgemeinen ist die Hoffnung auf unsterblichen Ruhm jedoch
nur eine Täuschung. Wer danach sucht, hat nur geringe Chancen,
sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen. Nur ganz wenige haben es ge-
schafft, etwas sehr Bedeutendes oder Spektakuläres zu vollbrip-
gen, so daß sie auch nach Jahrtausenden nicht vergessen wurden.
Sie gewannen die Unsterblichkeit aber nicht für sich selbst, son-
dern nur für ihre Taten. Ihre Macht und ihr Ruhm haben ihnen
niclt geholfen, ihren Tod zu verhindern. Ebenso wie alle anderen
mußten sie nach einer kurzen Lebensspanne sterben.


3.6   Unsterbliche Ideale und die Tradition der
      Gewalt




Die Gewißheit des Todes hat besonders ehrgeizige Menschen wie
etwa Herostratos dazu veranlaßt, Verbrechen zu begehen, um un-
sterblichen Ruhm zu gewinnen. An der Kürze unseres Daseins
liegt es wohl auch, daß Ideale wie Vaterland, Religion oder Welt-
anschauung im allgemeinen höher bewertet werden als das Leben
und das Wohl der einzelnen Menschen. Wie die vielen Kriege in
Vergangenheit und Gegenwart zeigen, sind die Erdenbürger häu-

32


fig bereit, dafür zu töten und auch ihr eigenes Leben zu riskieren.
Sie selbst müssen ja schließlich sowieso nach einigen Jahrzehnten
sterben; hingegen sollen ihre Nation, ihre Religion oder ihre Ideo-
logie für immer weiter existieren.

In der bisherigen Geschichte wurden unzählige Kriege wegen sol-
cher Prinzipien geführt. Militärisch unterlegene Kulturen wurden
ausgelöscht. Die Ideale des Stärkren galten als die höheren. Z.B.
glaubten die christlichen Spanier, den unterworfenen Völkern in
Mittel- und Südamerika weit überlegen zu sein, obwohl diese
hochentwickelte Staaten geschaffen hatten. In Verkennung dieser
Tatsache versklavten die Eroberer die Indianer, zerstörten deren
Kultur und zwangen ihnen ihre Religion auf.

So entstand eine Tradition der Gewalt. Fast alle Staaten bemühten
sich intensiv, ihre militärische Macht zu vergrößern, um nicht in
die Position des Schwächeren zu geraten. Dieses Wettrüsten hält
auch heute noch an, obwohl die bereits vorhandenen atomaren,                                                            ,
biologischen und chemischen Waffen wahrscheinlich ausreichen
würden, die Menschheit mehrfach zu vernichten. Die ideologi-
schen Gegensätze zwischen den Supermächten und ihr gegenseiti-
ges Mißtrauen scheinen jedoch so tief zu sein, daß es bisher nicht
möglich war, einen Frieden auszuhandeln, der nicht durch eine
militärische Abschreckung garantiert wird. Auch heute sterben je-
des Jahr Hunderttausende in Kriegen, die im Namen politischer
oder religiöser Heilslehren geführt werden. In vielen Ländern hält
man die Ideale eben nach wie vor für wichtiger als das Leben der
Menschen.

Das zeigte sich zu Beginn der achtziger Jahre besonders deutlich
im Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak. Dort waren die
Massen von den religiösen oder nationalistischen Ideologien, die
ihre politischen Führer verkünden, begeistert. Millionen von jun-
gen Männern meldeten sich freiwillig an die Front, ohne daß die
Generäle ihnen dafür große materielle Vorteile versprechen muß-
ten. Viele waren sogar zu Selbstmordkommandos bereit. Unzäh-
lige starben in diesem Krieg für ihr Vaterland oder für ihre Reli-
gion. Sie dachten nicht daran, sich gegen die Befehle ihrer Offi-
ziere aufzulehnen, die sie in den Tod schickten.

Auch die Staaten, die nicht in einen Krieg verwickelt sind, geben
sehr viel Geld für die Rüstung aus. Allein für militärische For-
schungen, die für die Entwicklung neuer Waffensysteme notwen-
dig sind, werden weltweit jährlich etwa 25 Milliarden Dollar auf-


                                                          33


gewandt, für medizinische Forschungen hingegen, nur ca. 4 Mil-
liarden Dollar bereitgestellt . So scheint für die meisten Regicrun-
gen die Vergrößerung ihrer militärischen Macht wichtiger zu sein
als die Bekämpfung von Krankheiten, die das Leben der Bevölke-
rung ihres Landes bedrohen.

Zum Beispiel stellt die US-Regierung für die AIDS-Forschung
nicht einmal ein Zwanzigstel der Mittel zur Verfügung, die sie für
militärische Forschungen zur Entwicklung von Weltraumverteidi-
gungssystemen ausgibt2. Dabei gehört AIDS zu den größten Ge-
sundheitsproblemen unserer Zeit, weil sich diese Infektionskrank-
heit in den achtziger Jahren sehr rasch über die gesamte Welt aus-
gebreitet hat und weil sie fast immer tödlich verläuft. Experten
vermuten, daß bis zum Jahr 2000 allein in Mitteleuropa mehr als
100.000 Menschen schon in jungen Jahren an AIDS sterben wer-
den, wenn nicht bald ein Gegenmittel gegen diese heimtückische
Krankheit gefunden wird. Würde die medizinische Forschung
ebenso großzügig gefördert wie die militärische, bestünden gute
Aussichten, daß ziemlich rasch wirksame Medikamente gegen Vi-
rusinfektionen wie AIDS entwickelt werden könnten. Die Wissen-
schaftler verfügen nämlich heute über hochempfindliche Analyse-
verfahren, mit denen sie die Struktur von Viren und die biochemi-
schen Vorgänge bei ihrer Vermehrung aufklären können. Da-
durch können Wirkstoffe entdeckt werden, die die Vermehrung
der Viren hemmen und sie auf diese Weise unschädlich machen (3).
Voraussetzung für die Entwicklung von Heilmitteln gegen AIDS
ist allerdings eine genaue Erforschung der biochemischen Reak-
tionen bei der Vermehrung der Viren, welche AIDS auslösen,
denn nur so können hochspezifische Wirkstoffe gefunden werden,
die gezielt den Vermehrungszyklus dieser Viren unterbrechen,
ohne dabei die Lebensvorgänge in den Zellen des menschlichen
Körpers zu stören. Die dafür erforderlichen Forschungsarbeiten
werden die wenigen Laboratorien, die gegenwärtig molekularbio-
logische Untersuchungen an Viren durchführen, aber wahrschein-
lich nicht innerhalb kurzer Zeit bewältigen können. Da heute in
allen mächtigen Staaten ein großer Teil der Wissenschaftler an mi-
litärischen Projekten arbeitet und sich nur verhältnismäßig wenige
mit medizinischen Forschungen befassen können, ist vielmehr zu
befürchten, daß die Suche nach Medikamenten, die AIDS heilen
können, mindestens ebenso lange dauern wird wie die Entwick-
lung von Strahlenkanonen zur Kriegsführung im Weltall.


34


3.7   Die Wirkung des Todes auf das Verhalten
der Menschen




Schon die vorangegangenen Betrachtungen über das Streben nach
unsterblichem Ruhm und über die Tradition der Gewalt zeigen,
daß die Gewißheit des Todes das Verhalten der Menschen häufig
in negativer Weise beeinflußt. Der Literaturnobelpreisträger Elias
Canetti schreibt: "Wir müssen schlecht sein, weil wir wissen, daß
wir sterben müssen."(1) Diese Worte des Dichters enthalten wohl
einen wahren Kern. So lehnen gegenwärtig manche Wirtschafts-
führer und Politiker Umweltschutzmaßnahmen auch dann ab,
wenn diese sinnvoll und notwendig sind, weil sie dafür kein Geld
ausgeben wollen. Es ist nicht ganz unverständlich, daß sie so han-
deln. Die zunehmende Umweltverschmutzung bedroht unsere
Nachfahren nämlich mehr als uns, und die Mächtigen sind zum
Erfolg vor der nächsten Wahlperiode oder spätestens vor dem
Ende ihres kurzen Lebens verdammt. Deshalb achten sie mehr auf
ihre kurzfristigen Vorteile als auf einen gesunden Lebensraum für
die kommenden Generationen.

Der bekannte amerikanische Berichterstatter Sydney J. Harris
meint zu den Auswirkungen der Tatsache, daß wir nur einmal le-
ben: "Ich werde diesen Weg nicht noch einmal gehen. Warum
sollte ich mir über das, was ich tue, Gedanken machen? Warum
nicht die Felder verwüsten, die Wälder abholzen, die Straßen
verschmutzen, die Flüsse verunreinigen, die Blumen niederwalzen
und die Menschen nur für die eigenen Zwecke ausnutzen."(2)

Obwohl Harris mit seiner ßemerkung ein anderes Ziel vor Augen
hatte, ist anzunehmen, daß sich die Menschen anders verhalten
würden, wenn sie nicht nach einer kurzen Lebensspanne sterben
müßten. Sie würden sich wahrscheinlich mehr bemühen, die Na-
tur zu erhalten, weil sie selbst sonst die langfristigen Folgen der
Umweltzerstörung zu tragen hätten. Und wären wohl auch rück-
sichtsvoller zu ihren Mitmenschen, da in einem unbegrenzten
Leben die Wahrscheinlichkeit viel höher ist, irgendwann für die
guten Taten belohnt und für die schlechten zur Rechenschaft gezo-
gen zu werden.

Elias Canetti hält den Tod auch deshalb für gefährlich, weil er es
versteht, die Menschen zu täuschen. Er meint, wir empfänden
beim Gedanken an den Tod anderer ein heimliches Gefühl der Ge-


                                                           35


nugtuung. Schon ein Gang über den Friedhof könne uns davon
überzeugen. Dabei lasse einen der Gedanke nicht los, daß die, die
da liegen, aus dem Rennen sind. Nur man selbst habe ja die Kraft                              "
und das Leben. "Es ist schwer", schreibt Canetti, "hier keine
Überlegenheit zu fühlen; der naive Mensch, in dieser Situation,
fühlt sie. . . Zu seinen Füßen liegen viele Unbekannte, alle dicht
beisammen. Ihre Zahl ist unbestimmt, doch groß, und es werden
immer mehr. Sie können nicht voneinander fort, sie bleiben wie
auf einem Haufen. Er allein kommt und geht, wie es ihm beliebt.
Er allein unter den Liegenden steht aufrecht." (3) "Ohne daß er es
sich gesteht, ist ihm ein wenig zumute, als hätte er jeden von ihnen
im Zweikampf besiegt."(4) Dieses erhebende Gefühl des noch Le-
benden ist natürlich nur eine Täuschung. Er selbst muß schließlich
auch sterben.

Canetti meint, das Gefühl der Genugtuung beim Tod anderer sei
besonders stark, wenn man selbst tötet oder die Tötung anderer
veranlaßt. Dazu schreibt er in seinem großen philosophischen                        "
Werk "Masse und Macht": Die "Konfrontation mit dem Getöte-
ten erfüllt den Überlebenden mit einer ganz eigentümlichen Art
von Kraft, die mit keiner anderen Art von Kraft zu vergleichen
ist."(5)

"Die Genugtuung des Überlebens, die eine Art von Lust ist, kann
zu einer gefährlichen und unersättlichen Leidenschaft werden. Sie
wächst an ihren Gelegenheiten. Je größer der Haufen der Toten
ist, unter denen man lebend steht, je öfter man solche Haufen er-
lebt, um so stärker und unabweislicher wird das Bedürfnis nach
ihm. Die Karrieren von Helden und Söldnern sprechen dafür, daß
eine Art von Süchtigkeit entsteht, der nicht mehr abzuhelfen ist.
Die übliche Erklärung, die dafür gegeben wird, lautet: daß solche
Menschen nur noch Gefahren atmen können; alles gefahrlose Da-
sein sei ihnen trüb und schal; einem friedlichen Leben könnten sie
keinen Geschmack mehr abgewinnen. Es soll der Reiz der Gefahr
nicht unterschätzt werden. Aber man vergißt, daß diese Leute
nicht allein auf ihre Abenteuer ausgehen. . . Was sie wirklich brau-
chen, was sie nicht entbehren können, ist wieder und wieder er-
neuerte Lust am Überleben."(6)

Zur Befriedigung dieser Lust muß man sich der Gefahr aber auch
nicht immer selber aussetzen. Im Gegenteil: "Keiner kann allein
genug Menschen fällen. Auf den Schlachtfeldern sind unzählige
im selben Sinne tätig, und wenn man ihr ßefehlsinhaber ist, . . .


36


kann man sich auch das Ergebnis, für das man die Verantwortung
hat, mit Haut und Haaren sämtlicher Leichen aneignen."(7)

Wer Bestätigungen für diese These sucht, braucht nur die Fernseh-
nachrichten anzusehen. Dort kann man hören, daß die Rundfunk-
sender der Staaten, die gerade Krieg führen, wie z. B. in den acht-
ziger Jahren der Iran und der Irak, bei fast jeder Gelegenheit von
der gewaltigen Zahl der gefallenen Feinde und von der Größe der
eigenen politischen Führer berichten. Die Machthaber betrachten
es anscheinend als ihren Verdienst, daß so viele getötet wurden.
                                                      
Das Recht über Leben und Tod ist nach "Masse und Macht" "das
erste und entscheidende Merkmal des Machthabers"(8). Über den
Typus des absoluten Herrschers schreibt Canetti: "An ihn darf
niemand heran; wer eine Botschaft für ihn bringt, wer in seine
Nähe gelangen muß, wird auf Waffen hin durchsucht. Von ihm
wird der Tod planmäßig ferngehalten: er selber darf und soll ihn
verhängen. Er darf ihn so oft verhängen wie er will. Sein Todesur-
teil wird immer ausgeführt. Es ist das Siegel seiner Macht; sie ist
absolut nur, solange sein Recht auf Verhängen des Todes ihm un-
bestritten bleibt. . . Zu einer Art doppelter Bereitschaft werden
seine Soldaten erzogen. Sie werden ausgesandt, um seine Feinde
zu töten, und sie sind bereit, für ihn selber den Tod zu empfan-
gen."(9)

Heute können die meisten Machthaber zwar nicht mehr nach eige-
nem Gutdünken Todesurteile verhängen. Dennoch gab es im
20. Jahrhundert viele Kriege und ungezählte politische Morde.
Das schrecklichste Beispiel ist der Versuch der deutschen Natio-
nalsozialisten, in Europa systematisch ganze Völker auszurotten.
Millionenfache Massenmorde aus politischen Gründen gab es aber
auch in Armenien, in Uganda, in Kambodscha und anderen
Ländern.

Das Kommando über Raketensysteme, die Millionen von Men-
schen töten und ganze Kontinente entvölkern könnten, verleiht
den politischen und militärischen Führern der Supermächte heute
mehr Macht über Leben und Tod, als sie jemals in der Vergangen-
heit ein Herrscher hatte. Mit den Worten Canettis: "Es hat einer
heute die Möglichkeit, mit einem Schlage mehr Menschen zu über-
leben als ganze Generationen früherer Geschlechter zusammen."(10)

Elias Canetti, der sich intensiv mit der Wirkung des Todes auf das
Verhalten der Menschen befaßt hat, schreibt in seinen Aufzeich-
nungen: "Ohne die Anerkennung des Todes hätte es nie ärgste


                                                         37


Verbrechen gegeben."(11) Auch wenn man die Dinge anders sehen
kann als der Dichter, haben die bisherigen Betrachtungen doch ge-
zeigt, daß Canettis Thesen zum Tod keineswegs unrealistisch sind.
Somit scheint der Tod so etwas wie ein böser Gott zu sein. Er ver-
bannt den einzelnen nach wenigen Jahrzehnten des Lebens in eine
ewige Nacht. Er täuscht die Menschen über seine wahre Gefähr-
lichkeit, indem er ihnen beim Tod anderer ein Gefühl der Genug-
tuung gibt. Er macht sie schlecht und rücksichtslos. So wird er es
vielleicht sogar schaffen, sie dazu zu bringen, mit Hilfe ihrer
Atomtechnik alles Leben auf der Erde auszulöschen.




3.8 Das Leben als ein Sein zum Tode




Trotz allem, was bisher gesagt wurde, sehen manche im Tod etwas
Positives, so der Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Boulding:
"Vielleicht ist die größte Bedrohung der menschlichen Rasse.
nicht so sehr die Atombombe, sondern die Möglichkeit, das
Altern auszuschalten."(1) James Carse, Leiter der religionsge-
schichtlichen Fakultät an der New York University, bemerkte:
"Die Unsterblichkeit muß vermieden werden. Der Tod ist der Ur-
sprung des Sinns. Könnte man ewig leben, wäre das Leben sinn-
los. Der Tod ist der Ursprung des Menschen. Es gibt kein Selbst
ohne den Tod."(2) Der Philosoph Karl Jaspers schreibt: "Wäre
nicht das Verschwinden, so wäre ich als Sein die endlose Dauer
und existierte nicht. . . Der Tod ist für jede Existenz die Notwen-
digkeit ihres Daseins."(3) Karl Jaspers und andere Philosophen, die
sich der Richtung der Existenzphilosophie zurechnen, betrachten
das Leben als ein "Sein zum Tode".

Der amerikanische Physikprofessor Robert C. Ettinger bemerkt
zu der Tatsache, daß manche Menschen erklären, sie wolltcn kein
unbegrenztes Leben: "Wenn jemand hartnäckig an der Behaup-
tung festhält, er möchte nicht endlos leben, verbirgt er sich nicht
selten hinter einer Maske." Man kann sie lüftcn, wenn man ihn
fragt: "Würden Sie, um den Tod als ,natürliches` Ende des Lebens
nicht hinauszuschieben, im Falle einer schweren Infektionskrank-
heit Penicillin verweigern?" Er würde sich wohl nicht weigern
wollen. Anschließend frage man ihn: "Würden Sie ein Serum ver-
weigern, das gerade auf dem Markt erschien und Ihnen zwanzig


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zusätzliche Jahre blühenden Lebens garantiert?" Eine Ablehnung
ist eher unwahrsclieinlich. Ebensowenig würde er ein garantiert
wirksames Unsterblichkeitsserum verweigern.

Und nun zeigt sich das wahre Gesicht des Gegners. "Er strebt sehr
wohl nach Unsterblichkeit, aber er möchte sie auf einem silbernen
Teller vorgesetzt bekommen. Er lehnt nicht das Leben ab, wohl
aber die mit seiner Erhaltung verbundenen Mühen und Risiken.
Er ist alles andere als stoisch-gelassen oder seinem Schicksal erge-
ben, oder von ausgeglichener Wesensart. . . oder reif, oder philo-
sophisch, oder überbescheiden oder altruistisch. Er hat auch nicht
jene anderen edlen Eigenschaften, die er zu besitzen vorgibt: er ist
einfach kurzsichtig und nervös."

Wenn man einen solchen Gegner entlarven will, kann man ihn
auch fragen: "Wie alt würden Sie denn wohl werden wollen, wenn
Sie wählen könnten? Würden Sie genau Ihre ,natürliche Lebens-
dauer`, nicht mehr und nicht weniger, wählen? Würden Sie sich
bei normalem Ablauf der Ereignisse gern einem Unfall oder einem
Leiden ausgeliefert sehen und würden Sie Ihr Leben weder zu ver-
kürzen noch zu verlängern trachten?" Professor Ettinger schreibt:
"Es genügt, solche Fragen zu stellen, um das Absurde bejahender
Antworten deutlich zu machen."(4)

Der berühmte deutsch-amerikanische Philosoph Herbert Marcuse
meint zu den Versuchen der Existenzphilosophie und anderer
Richtungen, die Unumgänglichkeit des Todes zu beschönigen:
"Die Theologie und die Philosophie liegen heute in einem Wett-
streit um die Verherrlichung des Todes als existentieller Katego-
rie." "Die herrschenden Mächte haben eine tiefe Affinität zum
Tode; der Tod ist ein Wahrzeichen der Unfreiheit, der Nieder-
lage." Marcuse vertritt die Ansicht, die Philosophie sollte auf die
Tatsache des Todes mit der "großen Verweigerung" reagieren. Die
Unvermeidlichkeit des Todes widerlege nicht die Möglichkeit einer
schließlichen Befreiung. Ziel sei es, den Menschen zu erlauben, zu
einem Zeitpunkt ihrer eigenen Wahl zu sterben (5). Das erfordert
natürlich die Entwicklung von Techniken, die den unfreiwilligen
Tod ausschließen. Auch viele andere Philosophen, vor allem des
dialektischen Materialismus, visieren die Möglichkeit an, eines
Tages den Tod ganz zu überwinden (6).

Selbstverständlich muß man nicht wie Marcuse und die anderen
Denker des dialektischen Materialismus dem Marxismus naheste-
hen, um einen Sieg über den Tod anzustreben. Der Tod, das Al-


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tern und die Krankheiten sind gemeinsame Feinde aller Menschn.
Diese Übel bedrohen auch diejenigen, die gegenwärtig den Tod
noch für unvermeidlich halten und deshalb versuchen, in ihm et-
was Positives zu sehen.




3.9 Der Tod und die Evolution




Manchmal wird behauptet, daß es ohne den Tod keine Höherent-
wicklung der Menschheit gäbe, der Tod besitze evolutionsfördern-
de Wirkung.

In einem Buch über die natürliche Evolution kann man lesen: Die
wichtigste Regel bei diesem Lebensspiel ist, "daß Organismen
Nachkommen hervorbringen sollen, die ihnen zwar ähnlich, nicht
aber identisch mit ihnen sind. . . Sind Organismen nicht identisch,
so behaupten sie sich auch nicht mit gleichem Erfolg im Leben
und bei der Fortpflanzung, weswegen die Erfolgreichen dominie-
ren. Das ErgebIiis ist eine allmähliche Ansammlung von Erbbot-
schaften, die Lebenshilfen darstellen."

Strenggenommen ist der Tod für die Auslese nicht notwendig,
"denn sie erfordert ja nur unterschiedliche Erfolge in der Fort-
pflanzung. Auf einem unendlich großen Planeten könnte dieser
Prozeß immer weiterlaufen, ohne daß es den Tod geben müßte. In
der Praxis aber sind die Lebensmöglichkeiten auf unserem Plane-
ten begrenzt, und der eine Organismus muß sterben, um einem an-
deren Platz zu machen. Zweifellos beschleunigt dies das Lebens-
spiel. Je kürzer die Lebensdauer einer Generation und die Zeit-
spanne einer Art von ihrer Entstehung bis zur Auslöschung sind,
desto schneller kann die Selektion wirken."(1)
 
Wenn man die bisherige Entwicklung des Lebens auf der Erde be-
trachtet, so treffen diese Bemerkungen zu. Der Mensch hat jedoch
die natürliche Auslese für seine Art bereits heute ausgeschaltet.
Voraussetzung für die Selektion ist nämlich, daß weitaus mehr
Nachkommen erzeugt werden, als später überleben können. Dann
pflanzen sich nur die stärksten Individuen fort und geben ihre
guten Erbeigenschaften an die kommenden Generationen weiter.
Einen derartigen Kampf ums Überleben kann die menschliche Ge-
sellschaft aber nicht akzeptieren. Unsere Ethik gebietet es, allen
Kindern, auch denen, die schwach oder krank sind, ein Leben und


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die Gründung einer eigenen Familie zu ermöglichen. Die moderne
Medizin hat dieses Ziel zumindest in den Industriestaaten fast
vollständig verwirklicht.

Somit ist die natürliche Evolution für das Menschengeschlecht
nicht mehr wirksam, der Tod hat für uns seine Bedeutung als evo-
lutionsfördernder Faktor verloren. Wenn man die menschliche
Gesellschaft wieder den Gesetzen der natürlichen Evolution unter-
werfen wollte, würde das zur Barbarei führen. Das erfordert näm-
lich eine politische Ordnung, in der die Schwachen keinen Schutz
genießen. Versuche in dieser Richtung gab es im Dritten Reich.
Damals wurden Menschen mit angeblich schlechten Erbeigen-
schaften diskriminiert, isoliert, ermordet. So gehört auch die
Tötung von etwa 100.000 chronisch Kranken zu den Verbrechen
des Nationalsozialismus (2).

In den folgenden Kapiteln wird erläutert, weshalb die Überwin-
dung des Todes eine Höherentwicklung der Menschheit keines-
wegs behindern, sondern sie sogar fördern wird.




3.10 Der Wert des menschlichen Lebens


Jeder Mensch ist einmalig. Schon daraus ergibt sich, daß jedes
menschliche Leben unendlich kostbar ist. Ein Goldbarren kann
durch einen anderen ersetzt werden. Ein Mensch hingegen ist un-
ersetzbar. Das wird uns spätestens dann bewußt, wenn ein glieb-
ter Angehöriger oder Freund stirbt.

Soll man den Tod trotzdem akzeptieren? Gegenwärtig sterben
viele schon in jungen Jahren an den Folgen von Kriegen, an Un-
terernährung oder an Krankheiten, die beim jetzigen Stand der
Wissenschaft noch nicht beherrschbar sind. Die meisten stimmen
wohl zu, wenn gefordert wird, nach wirksamen Maßnahmen zu
suchen, um solche vorzeitigen Todesfälle zu verhindern.

Wenn jemand heute im Alter von achtzig Jahren stirbt, neigen al-
lerdings manche dazu, gleichgültig mit den Achseln zu zucken und
zu sagen: "Er hat ein erfülltes Leben gehabt." Ist das wirklich so?
Die meisten Erdenbürger müssen den größten Teil ihres Lebens
hart arbeiten. Ihnen bleibt nur wenig Zeit, es zu genießen. Daran
werden sie häufig auch durch Krankheiten'und in späteren Jahren
durch die Altersbeschwerden gehindert. Man denke auch daran,


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wie viele Pläne ein Mensch in seiner Jugend hat und wie wenig da-
von er in seinem kurzen Dasein verwirklichen kann.

Hören wir dazu noch einmal Elias Canetti: "Es ist um jeden
schade. Niemand hätte je sterben dürfen. . . Das Wichtigste trägt
man vierzig oder fünfzig Jahre in sich, bevor man es artikuliert zu
sagen wagt. Schon darum ist gar nicht zu ermessen, was mit denen
verloren geht, die früh sterben. Alle sterben früh."(1) "Er (der Tod)
ist das oberste Symbol des Mißlingens. . . Wäre. . . der Tod gar
nicht da, so könnte einem nichts wirklich mißlingen; in immer
neuen Versuchen könnte man Schwächen, Unzulänglichkeiten
und Sünden wiedergutmachen. Die unbegrenzte Zeit gäbe einem
unbegrenzten Mut."(2)










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